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Zeit und Politik

Das Verhältnis von Politik und Zeit ist vielschichtig und entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung. Dies hat nicht nicht zuletzt damit zu tun, dass Zeit in der sozialen Welt vielfältige Formen ­annehmen kann und sich nicht auf die Uhr oder den Kalender reduzieren lässt. Für die politische Bildung ergibt sich daraus die Aufgabe, für die Komplexität politischer Zeit zu sensibilisieren – im Hinblick auf politische Urteilsbildung darüber, wie Zeit politische Macht entfaltet und mit Blick auf politisches Handeln dafür, wie Zeit in der politischen Praxis hergestellt wird.

Unsere Alltagswelt ist durch und durch zeitlich organisiert. Das moderne Leben ist nur schwerlich ohne Kalender und Uhr denkbar. Der Lebensweg des Einzelnen orientiert sich an den Zeiten der Kindheit, der Adoleszenz und des Erwachsenenalters. Sprichwörtlich (aber damit nicht weniger wichtig) bedenken wir die „Reife der Zeit“ oder vertrauen darauf, dass „die Zeit alle Wunden heilt“. 

Zeit der Politik

Die Welt der Politik ist hier keine Ausnahme: Auch in ihr ist Zeit eine wesentliche Größe, die Abläufe organisiert und Orientierung stiftet. Von den Zeitpunkten des Wählens über die zeitlich getaktete Schrittfolge des Gesetzgebungsprozesses bis hin zur politischen Rhetorik über „historische Lehren“ oder die „Zeitenwende“ ist der politische Betrieb temporal geprägt. Dies gilt in besonderer Weise für demokratische Systeme, in denen Positionen und Befugnisse, die mit kollektiv verbindlichem Entscheiden verbunden sind, immer nur auf Zeit vergeben werden. Schließlich sind auch jene politischen Ereignisse, die sich dezidiert jenseits etablierter parlamentarisch-repräsentativer Verfahren positionieren, zeitlich organisiert und auf diese bezogen, wie etwa der öffentliche Protest, für den es typische Momente gibt – jedes Jahr am 1. Mai, jeden Freitag, immer zeitgleich zu G7/G8/G20-Gipfeltreffen. Die politische Welt im Allgemeinen und demokratisch organisierte Systeme im Speziellen sind mithin von komplexen und ineinander verschachtelten Zeitverhältnissen gekennzeichnet (Riescher 1994), die politischer Praxis einerseits als strukturelle Ordnung entgegentreten – die Wahl findet heute und nicht erst morgen statt – und die andererseits in politischer Praxis wirkmächtig eingesetzt werden können – der lang erwartete Bericht zur wirtschaftlichen Lage wird morgen und nicht schon heute veröffentlicht. 

Die Zeit der Politik steht dabei in Beziehung zu anderen Funktionsbereichen, die wiederum über ihre je eigenen Zeitordnungen verfügen (Luhmann 2005): Das Rechtssystem ist auf Erwartungssicherung durch Verlängerung der Vergangenheit in die Zukunft gerichtet, das Mediensystem folgt dem Prinzip der ständigen Aktualisierung durch das (Er-)Finden neuer Meldungen, und das Wirtschaftssystem orientiert sich an der offenen Zukunft, in der Gewinne gesteigert und Verluste minimiert werden sollen. Insbesondere in ihrem Verhältnis zur zuletzt genannten Zeitordnung wird jene der politischen Welt vielfach als zu langsam wahrgenommen; ihre Verfahren und Abläufe seien zu träge, um mit dem kontinuierlich anwachsenden Tempo der kapitalistischen Ökonomie noch schritthalten zu können (vgl. Rosa 2005: 391-427). Während diese Deutung sicherlich einiges an Evidenz auf ihrer Seite hat, darf darüber auch nicht vergessen werden, dass in der systematischen Verlangsamung von Geschehnissen, die für die Zeit der Politik (unter anderem) prägend ist, auch ein Eigenwert liegt, da hierdurch Zeiträume für Partizipation, Deliberation, Entscheidungsfindung und -begründung entstehen. Auf der anderen Seite muss sich die politische Zeitordnung freilich auch mit der Frage auseinandersetzen, wieviel Zeit sie sich angesichts vielfältiger Krisen noch lassen kann. Eine tragfähige Zeit der Politik wäre eine, die sich nicht von anderen Zeitordnungen kolonialisieren lässt, ohne jedoch ihre Verwicklungen mit diesen anderen Zeitordnungen aus dem Blick zu verlieren.
 
Politik der Zeit

Die Frage nach der zeitlichen Ausrichtung von Politik verweist darauf, dass Zeit dem politischen Betrieb nicht nur begegnet in Gestalt der Uhr und des Kalenders, die Abläufe strukturieren, sondern auch in Form von Zeithorizonten, die der politischen Orientierung dienen. In dieser Hinsicht lässt sich etwa das gegenwärtig dominante prognostische Verhältnis zur Zukunft nennen. Die Zukunft erscheint der Gegenwartsgesellschaft als ein mehr oder weniger unbestimmter Horizont des Möglichen, der mittels Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Risikokalkulationen und Szenarienbildung antizipiert werden kann und muss. Die Verfügbarkeit solcher Techniken ist sowohl Grundbedingung als auch Triebkraft einer spezifisch modernen Politik der Zeit, die wesentlich an der Logik der Prävention, d. h. der zeitlich vorausgreifenden Verhinderung von in der Zukunft befürchteten Schadensfällen orientiert ist (Leanza 2017). In diesen Sog gerät auch die politische Bildung, die zunehmend mit der Erwartung konfrontiert wird, befürchteten Entwicklungen (wie etwa einer Radikalisierung) präventiv vorzubeugen (Barbehön/Wohnig 2022). Für den politischen Wettbewerb geht damit eine eigentümliche temporale Dynamik einher, etwa wenn Konflikte zwischen widerstreitenden Zukunftsprognosen ausbrechen oder wenn politische Verantwortung rückwirkend auf eine vergangene Gegenwart zugerechnet wird: „Das hätte man wissen, darauf hätte man sich besser einstellen, das hätte man verhindern können!“ 

Während der Versuch, das künftig Mögliche anhand von Eintrittswahrscheinlichkeiten zu sortieren und das Befürchtete vorsorglich abzuwehren, nicht per se problematisch ist, ist diese temporale Orientierung an Risiken jedoch auch selbst riskant. So lässt sich beispielsweise in der Sicherheitspolitik eine mindestens ambivalente Einschränkung von Grundrechten unter Verweis auf eine nicht manifeste, sondern drohende terroristische Gefährdung beobachten (Barbehön 2023a). Und auch jenseits derart weitreichender Maßnahmen ist eine prognostische und präventive Positionierung gegenüber der Zukunft für eine politische Kultur des Wettstreits von Ideen nicht in jeder Hinsicht zuträglich, ist sie doch verbunden mit der Tendenz, politische in expertokratische Wissens- und Berechnungsfragen umzuwandeln. Umgekehrt wäre der politische Betrieb nicht minder schlecht beraten, zumal im Angesicht langfristiger Herausforderungen wie dem Klimawandel, würde er das, was eintreten könnte, völlig außer Acht lassen. Mit Blick auf die politische Bedeutung von Zeithorizonten ist also entscheidend, auf welche Weise man sich auf mögliche Zukünfte (und auch auf erinnerte Vergangenheiten) bezieht (White 2024). Eine Vereinseitigung in Richtung von Risiken läuft hier Gefahr, die Potenziale, die mit der Ungewissheit des Zukünftigen einhergehen und die etwa mit einer experimentellen Haltung gehoben werden können, zu vernachlässigen.

Zeitlichkeit politischer Zeit

Auf grundlegender Ebene lässt sich an der politisch variablen Bedeutung von Zeithorizonten schließlich auch erkennen, dass Zeit nicht einfach eine natürlich gegebene Größe ist, die politischem Geschehen als äußerliche Rahmenbedingung entgegentritt. Dass die Zukunft nicht vorherbestimmt ist, ist nicht bloß eine Tatsache, die Entscheidungsmöglich- und -notwendigkeiten begründet, sondern umgekehrt und zugleich ist die Tatsache, dass die moderne Gesellschaft über immer mehr Fragen die Entscheidungshoheit reklamiert (inklusive solcher Bereiche, die früher der „Natur“ überantwortet waren), eine wesentliche Triebkraft dafür, dass ihr die Zukunft als offen und unbestimmt erscheint. An diese Zeitvorstellung ist auch der Bildungsbegriff rückgebunden, denn dieser setzt voraus, dass die Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht in Stein gemeißelt ist. Da sich Gesellschaften kulturgeschichtlich nicht immer auf diese Weise zeitlich orientiert haben, ist „Zeit“ eine Entität, die selbst zeitlich ist, also über eine ihr eigene Geschichte verfügt (Koselleck 1989). So war für die Vormoderne die Erwartung einer göttlich vorbestimmten Endzeit in Gestalt des Jüngsten Gerichts prägend. Demgegenüber ist die Unendlichkeit der Zeit eine spezifisch moderne Entdeckung, ebenso wie die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft mit der Gegenwart als punktuellem Moment, in der das eine in das andere (absichtsvoll) transformiert wird. Parallel dazu haben sich temporale Semantiken wie etwa die des „Fortschritts“ entwickelt, die zum Ausdruck bringt, dass das Kommende nicht nur anders als das Vergangene sein wird, sondern auch besser – wenn denn nur heute richtig gehandelt wird. Es sind diese am Anbruch der Moderne sich einstellenden Veränderungen temporaler Erfahrung, die unser heutiges Verständnis von politischem Entscheiden einerseits möglich machen und die andererseits durch Entscheidungstätigkeiten mit hervorgebracht und stetig erneuert werden. Zum Zeitregime unserer spätmodernen Gegenwart (Assmann 2013) gehört indes auch, dass sich die Fortschrittssemantik abgenutzt zu haben scheint. 

Dass die geschichtliche Entwicklung im Allgemeinen eine Erfolgsgeschichte sei, vermag im Angesicht sich häufender existenzieller Krisen immer weniger zu überzeugen; zudem lässt sich kaum mehr leugnen, dass der „Fortschritt“ der einen mit der Unterdrückung anderer einhergegangen ist und weiterhin einhergeht (Mills 2020). Mit der Thematisierung von planetaren Kipppunkten und irreversiblen Schäden wird überdies ein mögliches Ende der Zeit wieder denkbar, was einem Diskurs der Dringlichkeit und der letzten politischen Handlungschancen Auftrieb gibt. Diese temporalen Figuren stehen wiederum in einem Spannungsverhältnis mit der Zeitordnung demokratischer Politik, die auf Dauer und die stets gegebene Möglichkeit der Revision ausgelegt ist (White 2024). In der gegenwärtigen soziopolitischen Konstellation offenbart sich ein neuartiger Zeitkonflikt zwischen der berechtigten Sorge um die Zukunftsfähigkeit der Welt und der nicht weniger berechtigten Sorge um die Stabilität demokratischer Prinzipien.

Politik, Zeit und politische Bildung

Aus all diesen Einsichten folgt mit Blick auf politische Bildung eine Warnung vor einer vorschnellen Essentialisierung von Zeit. Identifiziert man die Befähigung zum politischen Urteilen und zum politischen Handeln als ein wesentliches Anliegen politischer Bildung, so impliziert dies auch eine kritische Haltung gegenüber der Annahme einer objektiv existierenden Zeit, die mit unverrückbaren Anforderungen und Zwängen verbunden sei. Die Behauptung etwa, dass die Zeit für Debatten vorbei und nun die Zeit für eine Entscheidung gekommen sei, ist zuallererst eine argumentative Strategie, die von der unwiderstehlichen Kraft „der Zeit“ zehrt. Gerade weil unsere Vorstellung von Zeit eng an das gnadenlose Ticken der Uhr geknüpft ist, sind politische Argumente, „die Zeit“ würde dieses verlangen und jenes verbieten, besonders wirkmächtig. 

Hier wäre es einer „zeitsensiblen“ politischen Bildung darum zu tun, die variable Gestalt von Zeit sichtbar zu machen und darüber aufzuweisen, was politisch mit Zeit getan, wie sie bedeutsam und wie mit ihr Macht ausgeübt wird (Barbehön 2023b). Mit Blick auf das Ziel, zu politischem Handeln zu befähigen und zu ermutigen, verweisen die obigen Überlegungen darauf, dass wir dem Lauf der Zeit nicht einfach hilflos ausgesetzt, sondern aktiv an ihrem Fortgang beteiligt sind. Für die politische Theoretikerin Hannah Arendt etwa besteht das herausragende Merkmal der menschlichen Handlungsbefähigung darin, einen Neuanfang setzen zu können, d. h. den vermeintlich natürlichen Gang der Dinge zu unterbrechen und etwas Neues in die Welt zu bringen, das einerseits Alternativen für die Zukunft sichtbar macht und das andererseits zum Gegenstand der Erinnerung und Traditionsbildung werden kann. Dabei sieht sie die Aufgabe der Schule (als ein wesentlicher Ort, an dem politische Bildung zum Thema werden kann) nicht zuletzt darin, Heranwachsende in die Lage zu versetzen, ihre Befähigung zum Neuanfang auch tatsächlich zu verwirklichen und damit Verantwortung für die gemeinsame Welt zu übernehmen (Arendt 2012). Sich Zeit für politisches Handeln zu nehmen, bedeutet mithin immer auch, unserer Welt eine bestimmte Zeit zu geben.


Literatur

Arendt, Hannah (2012): Die Krise in der Erziehung. In: Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München, S. 255–276.

Assmann, Aleida (2013): Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München. 

Barbehön, Marlon (2023a): Riskante Ausnahmen: Zur Performativität kommunikativer Grenzziehungen zwischen politischer Ausnahme- und Normalzeit. In: Zeitschrift für Politische Theorie, Heft 1, S. 231–251.

Barbehön, Marlon (2023b): Zeichen der Zeit: Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität. Frankfurt/M.

Barbehön, Marlon/Wohnig, Alexander (2022): (Politische) Bildung als Verhinderung: Zu den Verkürzungen eines präventiven Zukunftsbezugs. In: Bünger, Carsten/Czejkowska, Agnieszka/Lohmann, Ingrid/Steffens, Gerd (Hg.): Jahrbuch für Pädagogik 2021. Zukunft – Stand jetzt. Weinheim/Basel, S. 170–181.

Koselleck, Reinhart (1989): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.

Leanza, Matthias (2017): Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie. Weilerswist.

Luhmann, Niklas (2005): Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme. In: Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Wiesbaden, S. 128–166.

Mills, Charles W. (2020): The chronopolitics of racial time. In: Time & Society, Heft 2, S. 297–317.

Riescher, Gisela (1994): Zeit und Politik. Zur institutionellen Bedeutung von Zeitstrukturen in parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen. Baden-Baden.

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt.

White, Jonathan (2024): In the Long Run. The Future as a Political Idea. London.

Der Autor

PD Dr. Marlon Barbehön ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind moderne Politische Theorie und Gesellschaftstheorie, Politische Kulturforschung sowie Zeit- und Räumlichkeit des Politischen.

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