Vom Verschwinden des öko-emanzipatorischen Projekts
Ingolfur Blühdorn: Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2024, 384 S., 20 €
In Debatten über die ökologische Krise wird immer wieder konstatiert, dass es zwar umfassendes Wissen zu Ursachen und erwartbaren Folgen der Krise gibt, dass jedoch angesichts sich zuspitzender Problemlagen nicht entschlossen genug gehandelt wird. Woran liegt es, wenn offensichtlich nichts oder zu wenig passiert? Die aspekt- und kenntnisreiche Studie von Ingolfur Blühdorn kann als ein aufschlussreicher Beitrag zur Klärung dieses Widerspruchs zwischen Wissen und Handeln gelesen werden. Blühdorns Überlegungen setzen am ökoemanzipatorischen Projekt (ÖEP) an, das sich in den 1970er/1980er Jahren herausgebildet habe und dessen Träger in den 2000er Jahren eine große sozial-ökologische Transformation (SÖT) proklamierten.
Das Konstrukt ÖEP beinhalte u. a. folgende Kernelemente: Kritik an Beherrschung, Unterdrückung und Ausbeutung von Mensch und Natur; Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen; Glaube an unverhandelbare ökologische Imperative; Gestaltbarkeit von Gesellschaft und Welt; Ausweitung demokratischer Partizipation; Anspruch auf Mündigkeit; Vertrauen in zivilgesellschaftliche Selbstorganisation (25). Es sei um einen „zivilgesellschaftlich organisierten sozial-ökologischen Umbau der kapitalistischen Industrie- und Konsumgesellschaft“ (10) gegangen, „der ein selbstbestimmtes und gutes Leben für alle in einer intakten natürlichen Umwelt ermöglichen sollte“ (ebd.). Die These Blühdorns ist, dass gegenwärtig das ÖEP selbst in die Krise gekommen und „an seiner eigenen Logik und seinen inneren Widersprüchen“ (17) zerbrochen sei. Es sei gewissermaßen überholt und habe seine moralische Kraft verloren.
Mit Unhaltbarkeit kennzeichnet Blühdorn die gesamte Gesellschaftsform. Unausweichlich müsse sich eine neue, andere Gesellschaftsform entwickeln. Unhaltbar seien die etablierten Arrangements einer Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit; die Leitnormen und Perspektiven des ÖEP, welche beanspruchten, die Krise der Nicht-Nachhaltigkeit zu überwinden; das Denken einer kritischen Soziologie und ihre Normativität, die die neue gesellschaftliche Konstellation noch nicht hinreichend begriffen habe.
Seit dem 1. Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ aus dem Jahr 1972, werde die ökologische Debatte von Narrativen der Begrenzung, des Verzichts und unzähligen Katastrophenszenarien dominiert, die in der scheinbaren Alternative Ende oder Wende mündeten. Handlungsansätze seien in den 1970er Jahren von der Machbarkeit des Notwendigen ausgegangen, während gegenwärtig in vielen Bereichen die Einstellung herrsche, dass die Katastrophe nicht mehr verhindert werden könne. Nun gehe es darum, sich mit der Katastrophe zu arrangieren, bzw. sich präventiv auf drohende Entwicklungen vorzubereiten, sich an Veränderungen anzupassen und gesellschaftliche Resilienz zu stärken.
Die gegenwärtige globale…
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Der Rezensent
Klaus Waldmann, Dipl. Pädagoge, ist als freiberuflicher Coach tätig und war viele Jahre in unterschiedlichen Funktionen in der politischen Jugendbildung aktiv.