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Sinnenbildung als Weg zur „Tiefendemokratie“?

Heike Pourian: Wenn wir wieder wahrnehmen. Wach und spürend den Krisen unserer Zeit begegnen, mit Bildern von Sibylle Reichel, 2. überarbeitete Auflage, Waldkappel (Ideen3 e. V.) 2022, kein Copyright, 546 S., „Gib was du kannst Preis“, Richtwert 42 €

Ist es naiv, angesichts der gefühlt schieren Übermacht von Krieg, Aufrüstung, internationalen Entdemokratisierung und Refeudalisierung bei zugleich rasant voranschreitendem Klimawandel und Artensterben ein Buch von fast 550 Seiten darüber zu schreiben, wie die ästhetisch-sinnliche Praxis des bewussten Wahrnehmens und in Beziehung-Seins die Basis für eine menschengemäße und lebensbejahende Gesellschaftsgestaltung sein kann? Heike Pourian tut genau das. Sie beschreibt in ihrem sehr persönlichen Buch ihre eigene Biografie und ihre Bildungs- und Entwicklungsarbeit v.a. als Lehrerin für Kontaktimprovisation. Sie bettet ihre Geschichten in den großen Kontext ein, indem sie fragt, welche Fragen, Qualitäten, Eigenschaften Menschen brauchen, um Gesellschaft, Kultur, Bildung, Wirtschaft und Politik so zu entwickeln, dass sie friedlich werden, regenerativ, demokratisch, enkeltauglich und gerecht. Ihr Menschenbild ist dabei geprägt von leibhaftigen Erfahrungen des Berührtseins von lebendigen Sinneserfahrungen und des Eingebettetseins in ein lebendiges großes Ganzes. Beim Lesen formt sich mir analog zur „Tiefenökologie“ der Begriff der „Tiefendemokratie“.

Heike Pourian gliedert ihre Argumentation für die bewusste Kultivierung eines sinnlich kreativen Verbundenseins des spürenden Selbsts mit und in der lebendigen Welt in 11 Kapitel. Zur Illustration der Ausgangsthese ihres Narrativs, nämlich der Untauglichkeit der aktuellen Bildung, beschreibt sie ihre eigenen Entfremdungserfahrungen in der Schule. So erscheint es ihr widersinnig, dass sie in einer Klassenarbeit im Fach Religion zum Thema Nächstenliebe ihrer orientierungslosen Banknachbarin nicht helfen darf (86). Die autoritäre Sanktionierung eines Hilfeversuchs durch eine ungenügende Note für beide Mädchen beschreibt sie als Ausdruck eines geheimen Lehrplans. Trotz scheinbar menschlicher Inhalte des Unterrichts zeige sich darin der eigentliche Auftrag der Schule: in Konkurrenz zueinander Menschen heranzuerziehen, die ihre menschlichen Regungen unterdrücken können, um individuell ohne die Anderen oder auch gegen sie äußerlich erfolgreich zu sein.

Auch ihren Gegenentwurf einer sinnlich verbundenen und ethisch auf verkörperte Lauterkeit orientierten Bildung verdeutlicht sie im ersten Kapitel mit einem Beispiel aus ihrer Schulzeit. Sie beschreibt dort, wie sie als Jugendliche mit Freund*innen auf einer Radtour auf einer Brücke über einem Fluss radelt. Auf dem Schild liest sie dessen Namen: Würm. „Die Würm aus dem Erdkundebuch! Die gab es in echt! ... Dass dieser abstrakte Unterrichtsgegenstand nun aus dem Nichts heraus Gestalt annahm, dass diese Würm hier…

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Der Rezensent

Prof. Dr. phil. Nils Altner ist Bildungs- & Gesundheitswissenschaftler mit dem Lehrgebiet ­professionelle Selbstfürsorge an der Alice ­Salomon Hochschule ­Berlin und Kliniken Essen-Mitte.

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