
Religion – eine vernachlässigte Dimension der Didaktik politischer Bildung
Religion und Migration sind in Deutschland oft von Vorurteilen
und Diskriminierung geprägt, insbesondere gegenüber Muslim*innen sowie Jüdinnen und Juden. In der politischen Bildung taucht Religion meist als (problembehaftete) Differenzkategorie auf, ihr demokratisches Potenzial hingegen steht kaum im Mittelpunkt von Bildungsarbeit.
Diese Vernachlässigung verstärkt Polarisierungen und schafft Raum für anti-demokratische Akteure. Religiöse Inhalte und Organisationen bieten jedoch auch Chancen für Empowerment, Überwindung von Vorurteilen und Brückenbau.
Das Begriffspaar Religion und Migration ruft bei vielen spontan Assoziationen mit dem Islam und mit (jungen) Menschen mit Migrationsbiografien hervor, die sich selbst als muslimisch und gläubig bezeichnen. Gleichzeitig ist die Erfahrung, in Deutschland muslimisch und gläubig zu sein, oft von Diskriminierung und stereotypen Zuschreibungen geprägt. 2023 nahmen islamfeindliche (1.464) und antisemitische (4.782) Vorfälle laut Bundesinnenministerium (2024) und dem Bundesverband RIAS (2024) deutlich zu. Dies zeigt, wie eng internationale Konflikte und lokale Diskriminierungsformen miteinander in Gesellschaften verbunden sind, die durch migrationsbedingte und religiöse Vielfalt geprägt sind. Diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind auch für die politische Bildung von Bedeutung. Dennoch bleibt Religion in diesem Kontext meist ein unterbelichteter Faktor oder wird vorrangig im Rahmen von Sicherheitsdiskursen thematisiert. In diesem Beitrag wechseln wir die Perspektive und zeigen, wie Religion auch als demokratische Ressource genutzt werden kann.
Insbesondere beim Nahostkonflikt wird Religion im Kontext von Migration insbesondere zu einer Differenzkategorie – nicht zu einer Ressource der pädagogischen Bearbeitung. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass über zunehmenden Antisemitismus weniger in der sogenannten deutschen Mehrheitsgesellschaft gesprochen wird, sondern dieser als muslimischer und/oder importierter Antisemitismus, der durch die Migration von Muslim*innen entsteht, bezeichnet wird. Vor allem für rechte Kräfte ist dieses Framing multifunktional: Sie lenken vom eigenen Antisemitismus ab, indem sie sich als besondere Beschützer von Jüdinnen und Juden sowie des Staates Israel gerieren, und zwar als Beschützer vor Muslim*innen. Zugleich ermöglicht es ihnen, ihren antimuslimischen Rassismus – bis in die bürgerliche Mitte – zu verbreiten, mit Konsequenzen auch für die politische Bildungsarbeit. So wird bspw. in Berlin bildungspolitisch ein „Kulturwandel in der Antisemitismusprävention“ (Kiesel 2024) erwartet, was bekannte und etablierte Träger nicht nur hart in ihrer Förderung, sondern auch in ihrer inhaltlichen Ausrichtung trifft, mit dem Ziel die vermeintliche „Multi-Kulti-Toleranz“ zu beenden (Liecke 2023).
Religionen, hier v. a. Judentum und Islam, werden gegeneinander in Stellung gebracht. Dies verstärkt religiöse Polarisierungen und verschärft Konfliktlinien entlang religiöser Identitäten.
Die Auswirkungen der Unterbelichtung von Religion in der politischen Bildung
Obwohl Religion ein wichtiges Element hiesiger Konflikte ist, bleibt sie oft ein unterbelichtetes Bezugssystem in der Didaktik politischer Bildung. Die politische Bildung spiegelt die verbreitete Annahme wider, dass Religion an Bedeutung verliere – eine Sichtweise, die zu blinden Flecken führt.
Mit der (fälschlichen) Annahme im Zuge der sog. Säkularisierungstheorie, dass der Einfluss von Religion auf Leben, Gesellschaft und Politik in westlichen Gesellschaften abnehme, ist auch in der politischen Bildung weitgehend die Entwicklung eines systematischen Wissens über Religionen sowie die Fähigkeit ausgeblieben, deren Einfluss auf Gesellschaft, Politik und Kultur kritisch wie aber auch anerkennend einzuordnen. Diese Marginalisierung von Religion in der politischen Bildung führt zu einer Reihe von Herausforderungen. So werden oft familiäre oder persönliche Konflikte in größere politische Debatten eingebettet, ohne dass politische Bildner*innen ausreichend darauf vorbereitet sind, solche Konflikte konstruktiv zu moderieren.
Für Schulen bspw. dokumentiert die GEW seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 und den darauf folgenden Angriffen Israels auf die palästinensischen Gebiete eine Zunahme
von Anfragen bei Organisationen, die Lehrkräften Orientierungshilfen und Arbeitsmaterialien zur angemessenen Thematisierung solcher Ereignisse bieten. Identitätsfragen, Sozialisationsprozesse und Politisierung (nicht nur im Migrationskontext) haben für gläubige und religiös sozialisierte Menschen in der Regel stets einen Bezug zu ihrer Religion. Daher ist es auch jenseits besonders erschütternder Ereignisse wie des 7.10.2023 und dessen langanhaltenden Folgen für die Professionalisierung politischer Bildner*innen von hoher Relevanz, diese „Differenz“-Kategorie ebenso zu berücksichtigen wie z. B. Gender, Class und Race.
Didaktische Vernachlässigung kann Stereotype verstärken und Akteur*innen Raum geben, die entstehende Lücke ihrerseits mit potentiell anti-demokratischen Inhalten zu füllen, wie zahlreiche Online-Prediger wie z. B. die Salafisten Pierre Vogel und Dehran Asanov alias Abdelhamid illustrieren (vgl. WDR 2024).
Von der „Differenzkategorie“ zum demokratischen Potential: Religion
als Ressource für politische Bildung – Beispiele
Die Sichtbarmachung und Einbindung von Religion in die politische Bildung hat das Potenzial, kulturelle Diversität nicht primär als Hindernis, sondern vielmehr als Ressource wahrzunehmen und aktiv für demokratische politische Bildung zu nutzen. Insbesondere in einem Land wie Deutschland, das sich erst spät als Einwanderungsgesellschaft begreift, ist Bildung häufig noch von eurozentrischen Perspektiven geprägt, was den Blick unnötig verengt und Ausschlussmechanismen verstärken kann.
In postkolonialen Gesellschaften betonen gerade oppositionelle politische Akteure häufig erfolgreich verbindende und geteilte religiöse Werte, um von autoritären Regierungen genährte gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden. Ein Beispiel sind Veranstaltungen zu Korruption in Malaysia, bei denen religiöse und politische Führungspersönlichkeiten aus verschiedenen Glaubenstraditionen heraus Appelle an die Regierung richten, Selbstbereicherung einzudämmen. Auch nutzen viele Muslim*innen den verpflichtenden Charakter der Armensteuer im Islam (Zakāt), um über soziale Ungleichheit und Bedingungen für Teilhabe zu diskutieren.
Global vernetzte Organisationen zu Religionen und Ethik, wie z. B. das „Weltparlament der Religionen“, betonen geteilte Werte wie bspw. das als „Goldene Regel“ bekannte Prinzip der Gegenseitigkeit, das in Form eines deutschen Sprichworts aus dem Judentum bekannt ist: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ (Piontek/Knowinn 2014). Den 1993 beschlossenen Verpflichtungen auf Gewaltlosigkeit, Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung fügte das Parlament 2018 Nachhaltigkeit und Sorge für die Erde hinzu.
Die systematische Reflexion religiöser Traditionen aus einem politischen Blickwinkel kann dazu beitragen, Vorurteile über verschiedene kulturelle Bezüge abzubauen und bislang wenig bekannte emanzipatorische Ansätze, wie etwa befreiungstheologische Konzepte, stärker in den Fokus zu rücken. Auch Muslimin*innen in Deutschland selbst sind solche Konzepte nicht unbedingt vertraut, gleichwohl sie helfen, den eigenen Blick auf Religion zu erweitern. In Indonesien beispielsweise, nach Pakistan das größte mehrheitlich muslimische Land der Welt, spielten muslimische Organisationen bei der Demokratisierung eine zentrale Rolle, nachdem das lange vom Westen gestützte Militärregime sich Ende 1998 reformierte. Die lange unterdrückten religiös-politischen Kräfte beriefen sich bei der Demokratisierung teilweise auch auf Konzepte im Islam, zum Beispiel auf das Prinzip der Konsultation, Shura, das die gegenseitige Beratung in allen Lebenslagen beinhaltet, auch Beratung der Regierung. Andere häufig herangezogene Prinzipien sind Konsensbildung unter Gelehrt*innen (Idschma) und Ijtihād, eine weitgehend selbständige (d. h. mündige) Auslegung von islamischen Rechtsquellen. Auch führen viele Muslim*innen an, dass Muhammad sich geweigert habe, einen Nachfolger zu benennen und schließen daraus, dass er seine Gemeinschaft zur Diskussion und gemeinsamen Entscheidung animieren wollte.
Historisch-kritische Interpretationen des Korans betonen, wie sehr Muhammad die Position der Frauen im Islam im Kontrast zu den früheren Gepflogenheiten stärkte, und dass das islamische Erb- und Familienrecht für Frauen beispielsweise wesentlich vorteilhafter und fortschrittlicher war als in anderen religiösen Gemeinschaften (vgl. Idriz 2021). Daran schließen sich feministische, zeitgenössische Koran- und Scharia-Interpretationen an.
Gerade zur Zeit des derzeit erstarkenden Nationalismus und wachsender Gewalt gegen Frauen bieten historisch kritische und feministische Interpretationen religiöser Traditionen viel Potential, das in der deutschen politischen Bildung noch viel zu selten genutzt wird, aber gerade für junge Muslima bzw. für Frauen- und Rollenbilder von jungen Muslimen insgesamt bedeutungsvoll sein kann.
Religiöse Träger und
außerschulische Akteure
Für die Aufbereitung und Verbreitung sind außerschulische Akteure wie NGOs im Kontext von Migration und/oder Religion und Bildungsorganisationen in religiöser Trägerschaft zentral.
Religiöse Träger können hier eine duale Funktion haben: Zum einen schaffen sie Safe Spaces, in denen bspw. Muslim*innen und Juden und Jüdinnen Stärkung und Empowerment erfahren können, insbesondere im Kontext von Diskriminierungserfahrungen. Gezielt auch politisches Engagement und Partizipation muslimischer Adressat*innen zu unterstützen, kann ein wichtiger Schritt sein, den hier noch sichtbaren Gap in der Repräsentation zu bearbeiten.
Zum anderen tragen sie zur Überwindung gesellschaftlicher Gräben bei, indem sie Brücken zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen bauen. Dies geschieht nicht nur durch die Förderung von Teilhabeprozessen und politischer Bildung, sondern auch durch das Infragestellen von Vorurteilen und die Einbindung diverser gesellschaftlicher Gruppen. Religiöse Träger leisten somit einen zentralen Beitrag zur Entwicklung einer politischen Kultur, in der religiöse und säkulare Perspektiven gleichberechtigt und im Rahmen demokratischer Prozesse verhandelt werden können, wie es Jürgen Habermas in seiner Konzeption der postsäkularen Gesellschaft beschrieben hat.
Um ihre Rolle in einer demokratischen Gesellschaft zu stärken, ist es wichtig, gerade die (noch sehr jungen und sich emanzipierenden) muslimischen Organisationen, als gleichberechtigte Partner – neben den etablierten z. B. christlichen und jüdischen – in politische Bildungsprozesse einzubeziehen. Ihre Arbeit darf nicht im Sinne „von Muslimen für Muslime“, auf Sicherheitsdiskurse und Extremismusprävention reduziert sein, sondern politische Bildungsarbeit auch „für alle“ gestalten können. Sie müssen besonders davor geschützt werden, für vermeintliches „Fehlverhalten ihrer Zielgruppe“ verantwortlich gemacht zu werden. Tendenzen dieser Art kennt die politische Bildung, wenn ihr bei gesellschaftspolitischen Krisen Versagen attestiert wird. Diese stigmatisierenden Zuschreibungen muslimischen Trägern gegenüber untergraben das demokratische, integrative und emanzipatorische Potential, das Religionen bieten.
Religiöse und interreligiöse Organisationen bieten auch häufig den Rahmen für politisches Engagement, z. B. im Bereich Umweltschutz und Klimagerechtigkeit (vgl. Religionen-Entdecken.de 2024). Ein Beispiel ist die Planung einer umweltfreundlichen und nachhaltigen Moschee in Bochum (vgl. Grüne Moschee Ruhr 2024), ein anderes die Lobbyarbeit der Deutschen Buddhistischen Union auf EU-Ebene für Tierschutz (vgl. Deutsche Buddhistische Union 2025).
Auch andere religiöse Formate können für die politische Bildung wertvoll sein: Während des Ramadan organisieren viele muslimische Gemeinden interreligiöse Iftar-Abende zum gemeinsamen Fastenbrechen, zu denen sie Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen einladen, um über gesellschaftliche Herausforderungen wie Integration oder Bildungsungerechtigkeit zu diskutieren. Solche Organisations- und Veranstaltungsformate bieten auch Möglichkeiten, das Repräsentationsdefizit in der politischen Teilhabe anzugehen und unterrepräsentierte Zielgruppen einzubinden.
Fazit
Die zunehmende Diversität der deutschen Gesellschaft und die damit verbundenen Herausforderungen erfordern eine Erweiterung der politischen Bildung um die Dimension Religion. Die stärkere Integration dieses Themas in die politische Bildung bietet die Möglichkeit, Schüler*innen nicht nur für gesellschaftliche und politische Zusammenhänge zu sensibilisieren, sondern auch zur Reduktion von Vorurteilen und Diskriminierung beizutragen. Eine systematische Einbindung religiöser Themen kann somit dazu beitragen, dass die politische Bildung ihrem Anspruch gerecht wird, demokratische Werte z. B. auch durch die Rekonstruktion ihrer religiösen Anbindung sowie als geteilte Wertebasis für politisches Handeln in zunehmend diversen Gesellschaften zu fördern.
Literatur
Bundesinnenministerium (2024): Bundesweite Fallzahlen 2023. Politisch motivierte Kriminalität. Online: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/nachrichten/2024/pmk2023-factsheets.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff vom 24.2.2025).
Bundesverband RIAS (2024): Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023. Jahresbericht. Berlin.
Deutsche Buddhistische Union (2025): AG Europa.
Die DBU und die Europäische Buddhistische Union. Online abrufbar unter https://buddhismus-deutschland.de/ag-europa/.# (Zugriff vom 24.02.2025).
Grüne Moschee Ruhr (2024). Online:
https://www.gruene-moschee.de/ (Zugriff vom 24.2.2025).
Idriz, Benjamin (2021): Der Koran und die Frauen. Ein Imam erklärt vergessene Seiten des Islam. Gütersloh.
Kiesel, Robert (2024): „Wildwuchs der Trägerschaften“: Geht Berlins Jugendstaatssekretär gegen unliebsame Antisemitismusprojekte vor? In: Tagesspiegel, 6.11.2024. Online: https://www.tagesspiegel.de/berlin/wildwuchs-der-tragerschaften-geht-berlins-jugendstaatssekretar-gegen-unliebsame-antisemitismusprojekte-vor-11791760.html (Zugriff vom 24.2.2025).
Liecke, Falko (2023): Grassierender Judenhass ist die Folge falscher Multikulti-Toleranz. In: NTV, 23.10.2023. Online: https://www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Grassierender-Judenhass-ist-die-Folge-falscher-Multikulti-Toleranz-article24482601.html (Zugriff vom 24.2.2025).
Piontek, Regina/Knowinn, Quint (2014): »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.« In: Pädagogik, Heft 12, S. 26–28.
Religionen-Entdecken.de (2024): Umweltschutz in den Religionen. Online: https://www.religionen-entdecken.de/lexikon/u/umweltschutz-in-den-religionen (Zugriff vom 24.2.2025).
WDR (2024): Spenden-Betrug? Islamistischer TikTok-Star in Düsseldorf festgenommen. In WDR, 10/10/2024. Online: https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/duesseldorf-festnahme-islamisten-prediger-100.html (Zugriff vom 24.2.2025).

Die Autorin
Sabine Achour ist Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

Die Autorin
Saskia Schäfer leitet eine Forschungsgruppe zu Demokratie und Religion an der Humboldt-Universität zu Berlin.