
Religiöse Vielfalt und Laïcité begreifen
Politische Bildung im Atelier Les trois monothéismes
am Mucem Marseille
Museen sind nicht nur Bewahrungsorte kulturellen Erbes, sondern als außerschulische Lernorte auch wichtige Gestalter*innen von historischer und politischer Bildung.
In unserer zunehmend pluralistischen Gesellschaft stehen Bildungsinstitutionen und deren Akteur*innen wie Fachkräfte der politischen Bildung oder Lehrende vor der Aufgabe, religiöse Vielfalt differenziert zu vermitteln, Vorurteile zu reflektieren und den Blick auf verschiedene religiöse Traditionen zu erweitern. Hierbei ermöglichen Museen dank
ihrer Objektbestände und Expertise andere Zugänge als die Schule, um religiöse Vielfalt historisch, kulturell und gesellschaftspolitisch greifbar zu machen.
Während eines Aufenthalts als Gastwissenschaftlerin am Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (Mucem) in Marseille lernte ich Pierre Kouyoumdjian kennen, der einen Workshop (frz. atelier) mit dem Titel Les trois monothéismes entwickelt hat, um junge Menschen anhand religiös konnotierter Objekte aus der Museumssammlung an die Themen religiöse Vielfalt und Laïcité heranzuführen. Dabei ist die spezifische Ausprägung des französischen Laizitätsprinzips zu berücksichtigen, das die Bildungs- und Vermittlungspraxis in Frankreich maßgeblich mitbestimmt.
Ist Religion tabu? Laïcité in der
französischen Schule
Während in Deutschland der konfessionelle Religionsunterricht als Schulfach gesetzlich abgesichert und verbreitet ist, ist dieser in Frankreich – mit wenigen Ausnahmen – illegal. 1882 wurde ein Gesetz erlassen, das Schulen zu laizistischen Institutionen reformierte (vgl. Kahn 2021: Abs. 4). Es ist in diesem Sinne Wegbereiter des Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat, das am 9. Dezember 1905 verabschiedet wurde
(vgl. Vézier 2018: Abs. 5). Frankreich ist bis heute eine strikt laizistisch organisierte Gesellschaft, nirgendwo in Europa wird die Trennung zwischen Kirche und Staat strenger gewahrt.
Laïcité wird von der französischen Verfassung als einer der grundlegenden Werte der Republik geschützt. Religion gilt als Privatsache, religiöse Symbole sind gemäß des laizistischen Neutralitätsgebots in Behörden und Institutionen verboten (vgl. Deiab 2022: 136 f.). Ursprünglich wurde das Gesetz geschaffen, um öffentliche Schulen vor dem damals dominanten Einfluss der katholischen Kirche zu schützen. Spätestens seit den 1980er Jahren bis heute wird mit Laïcité vor allem gegen die zunehmende Sichtbarwerdung des Islams in der Öffentlichkeit argumentiert. Besonders hitzig wurde über die Präsenz des Islams in der französischen Gesellschaft und die Auslegung der Laïcité debattiert, nachdem 1989 drei Schülerinnen einen Verweis erhielten, da sie ihr Kopftuch in der Schule nicht ablegten und forderten, im Unterricht beten zu dürfen. Schließlich wurde 2004 ein bis heute geltendes Gesetz verkündet, welches das sichtbare Tragen von religiösen und politischen Zeichen in der Schule verbietet (vgl. Meyer/Matzko 2018: 81–85, 89).
Die religiösen Verhältnisse haben sich in den letzten 100 Jahren in Europa und Frankreich drastisch gewandelt. Die christlichen Großkirchen verlieren an Bedeutung, Individualisierung und Migration führen zu einer zunehmenden religiösen Pluralisierung. Das Respektieren der Laïcité gilt in Frankreich allgemein als Merkmal einer ‚gelungenen‘ Integration. Laïcité wird aber oft missverstanden: Statt der bloßen Trennung von Staat und Religion wird vielfach die Zurückdrängung ins Private erwartet. Öffentlich sichtbare ‚religiös‘ gelesene Zeichen wie das Kopftuch werden häufig als Kennzeichen eines mangelnden Integrationswillens missinterpretiert und mit Wertvorstellungen konnotiert, die angeblich mit der französischen Kultur unvereinbar sind (vgl. ebd.: 89).
Jahrzehnte lang galt das Thematisieren von Religion(en) in der Schule als Tabu. So war es den Familien überlassen, ihre (religiösen) Werte und Traditionen weiterzugeben. Viele Familien in Frankreich verstehen sich heute jedoch nicht mehr als religiös. Zudem lässt sich festhalten, dass die weitgehende Ignoranz in Bezug auf alles Religiöse an französischen Schulen zu schwerwiegenden Bildungslücken führte. Denn um die Kulturgeschichte und unsere heutige pluralistische Gesellschaft zu verstehen und die Relevanz von Laïcité zu begreifen, ist es unverzichtbar, sich mit Religion(en) auseinanderzusetzen (vgl. Klein 2021: 37 ff.).
Im Jahr 2002 beauftragte die Regierung deshalb den Philosophen Régis Debray damit, einen Lösungsvorschlag zu erarbeiten. Debray schlug ein enseignement du fait religieux vor, welches fächerübergreifend unterrichtet wird. Es zielt auf eine säkulare Vermittlung religiöser Phänomene ab, um das historische und kulturelle Religionsverständnis zu fördern, ohne eine konfessionelle Lehre zu betreiben. Sein Vorstoß führte zwar zu einer Anpassung der Unterrichtspläne, allerdings stößt die Umsetzung seiner Vorschläge nach wie vor auf große Hindernisse, wie z. B. die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte (vgl. Meyer/Matzko 2018: 90 f.). In der seit 2013 in allen öffentlichen Schulen ausgehangenen Charte de Laïcité heißt es, dass es Aufgabe aller Mitarbeiter*innen sei, den Sinn und Wert von Laïcité zu vermitteln. Doch viele Lehrkräfte sind weiterhin verunsichert, wie sie dies in einer religiös und kulturell heterogenen Schulgemeinschaft umsetzen können (vgl. Klein 2021: 40 f.).
Die islamistischen Terroranschläge von 2015 markieren einen Wendepunkt in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung und den Stellenwert von Laïcité in Frankreich. Sie wurden als Angriff auf die republikanischen Grundwerte interpretiert. Die französische Regierung reagierte mit einer Mobilisierungskampagne in den Schulen für die Werte der Republik darauf, wobei Laïcité oberste Priorität hatte. So wurden verstärkt Lehrer*innenfortbildungen und verpflichtende Unterrichtseinheiten zum Thema Laïcité eingeführt. Zusätzlich wurden im Dezember 2015 erstmals ein Gedenktag und eine Themenwoche (Semaine de la laïcité) initiiert, die seitdem jährlich in den Schulen stattfinden (vgl. Hatton 2019: 52 f.). In diesem Kontext wurde das Mucem im Jahr 2018 von der Koordinationsstelle für Schulen in Aix-Marseille angefragt, um im Rahmen der Semaine de la laïcité einen Workshop für Schüler*innen anzubieten.
Im Jahr 2020 erschütterte die Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty die Nation. Paty nutzte Mohammed-Karikaturen der Zeitschrift Charlie Hebdo zur Erklärung von Meinungsfreiheit in der Demokratie. Die Unterrichtssituation wurde in Hassvideos auf Social Media verzerrt dargestellt und publik gemacht und Paty so zur Zielscheibe eines radikalisierten Attentäters. In der Folge wurde die schulische republikanische Werteerziehung erneut auf den Prüfstand gestellt und neue Maßnahmen zur Lehrer*innenbildung und zur Stärkung der Laïcité vorgeschlagen (vgl. Szukala 2022: 68 f., 73). Allerdings gibt es auch Kritik am religions- und schulpolitischen Vorgehen der Regierung: Die Rolle der Schulen werde überschätzt, der Hyperfokus auf Laïcité verdränge die Förderung anderer wichtiger Themen und die Mobilisierung der Schulen könne nicht die einzige Antwort auf Bedrohungen durch islamistischen Terror bleiben (vgl. ebd.: 71, vgl. Hatton 2019: 54 f., vgl. Kahn 2021). Dennoch sind die Erwartungen an die politische Bildung in der Schule sehr hoch. Daher sind Formate, die bei dieser komplexen Aufgabe unterstützen, von großem Interesse.
Das Atelier des Monothéismes
Das Atelier des Monothéismes ist als etwa dreistündiger Workshop konzipiert, der sich vor allem an Schüler*innen ab acht Jahren richtet. Der Workshop findet im Centre de Conservation et de Ressources (CCR) statt. Hier sind die Archive und Depots untergebracht, das Schaudepot appartement témoin, die öffentliche Museumsbibliothek und kleine Sonderausstellungsflächen. Die meisten Schüler*innen, die am Atelier teilnehmen, sind zum ersten Mal zu Besuch hier, viele waren noch nie in einem Museum.
Im Zuge der Konzeption des Workshops durch Pierre Kouyoumdjian, einem Kultur- und Geschichtswissenschaftler, wurde schnell klar, dass es kaum Objekte in der Sammlung gibt, die sich explizit mit Laïcité verbinden lassen. So entstand die Idee, sich dem Thema unter Rückgriff auf die vorhandenen vielfältigen Objekte religiöser Kulturen zu nähern. Ausgangspunkt für den Workshop sind nicht ‚heilige‘ Objekte, die nur in formellen religiösen Zeremonien verwendet werden, sondern solche, die Bestandteil der historischen oder gegenwärtigen religiösen Alltagspraxis von Gläubigen sind.
Der Ablauf des Formats gestaltet sich wie folgt: Zu Beginn betreten die Schüler*innen die Bibliothek, in der mehrere Gruppenarbeitstische vorbereitet sind. Zunächst versammeln sich alle Teilnehmenden gemeinsam um einen Tisch, auf dem mehrere Bücher zu den drei Religionen im Fokus – Christentum, Judentum und Islam – ausliegen.
Pierre Kouyoumdjian fragt die Schüler*innen zunächst nach ihrem Vorwissen zu Begriffen wie Poly- und Monotheismus, Atheismus und Laïcité und erklärt ggf. die Wörter. Er weist darauf hin, dass Laïcité bedeutet, dass alle das Recht haben, frei ihre Religion zu praktizieren und darüber zu sprechen. Es gibt also keine unterlegene oder überlegene Religion, keine falsche oder wahre Rede. Außerdem lenkt er das Gespräch im Plenum auf die Sprachen und Bücher der Religionen und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Darüber hinaus wird neben der Terminologie auch ein kleiner Einblick in die Religionsgeschichte gegeben. Schließlich fragt er die Teilnehmenden, was es braucht, um eine Religion zu erfinden und verdeutlicht so den konstruktiven Charakter von Religion.
Man kann sagen: Pierre Kouyoumdjian gibt keinen klassischen Lehrvortrag – stattdessen bezieht er das Vorwissen und die Lebensrealitäten der Schüler*innen und ihre Fragen ein. Es geht ihm nicht darum, als Autoritätsperson möglichst viel Faktenwissen zu den drei Religionen zu dozieren, sondern gemeinsam mit den Schüler*innen in ein Gespräch zu finden, in dem kritisches Hinterfragen geübt wird und unterschiedliche Meinungen ausdrücklich erlaubt sind. Es geht auch nicht darum zu bestimmen, welche religiöse Sichtweise ‚richtig‘ ist, sondern um ein gegenseitiges Zuhören und Verstehen als demokratiebildende Übung und praktische Umsetzung von laïcité (vgl. Interview mit Kouyoumdjian vom 22.11.2022).
Schließlich leitet Pierre Kouyoumdjian mit der Frage, welche Gegenstände den Gläubigen helfen, ihre Verbindung zu Gott zu stärken, zu den Objekten über, die bereits auf den anderen Arbeitstischen bereitstehen. Jetzt dürfen die Schüler*innen die Objekte unter die Lupe nehmen. Zwar dürfen die Objekte aus konservatorischen Gründen nicht berührt, aber aus nächster Nähe ausgiebig betrachtet werden. Der Arbeitsauftrag lautet, Beobachtungen aufzuschreiben oder aufzumalen und gemeinsam zu überlegen, welches Objekt zu welcher Religion gehören könnte.
Im Anschluss stellen die Schüler*innen im Gremium ihre Ergebnisse vor, Pierre Kouyoumdjian moderiert, ergänzt und kontextualisiert.
Es geht nicht darum, die Illusion einer konfliktfreien Welt heraufzubeschwören, sondern darum, auf historische und kulturelle Verflechtungen hinzuweisen und für die Komplexität von religiöser Vielfalt zu sensibilisieren. Die Schüler*innen üben im Workshop, sich frei über Religion(en) zu äußern, und erleben, dass der Glaube, mit dem sie kommen oder ihre (nicht-)religiöse Sozialisation, sie nicht daran hindern, sich für Religion(en) zu interessieren und Vorurteile kritisch zu hinterfragen. Die Museumsobjekte fungieren dabei als Gesprächsstimulus und Anker. In der Umgebung des Museums befinden sich die Objekte nicht mehr in einem spezifischen religiösen Setting, sondern werden zu musealisierten Objekten, die – im Sinne von Krzysztof Pomian (vgl. 2013) – als Semiophoren fungieren: Sie sind nicht nur materielle Dinge, sondern auch Träger von Bedeutungen und Erinnerungen, die über ihren ursprünglichen Kontext hinausweisen. Indem sie aus ihrem ursprünglichen religiösen Gebrauch herausgelöst und in den musealen Raum überführt werden, erleichtern sie eine distanzierte, reflexive Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen und deren Verflechtungen. Gerade diese Kontextverschiebung eröffnet im Workshop neue Perspektiven auf Religion(en) und Laïcité, indem sie den Schüler*innen erlaubt, sich kritisch und vergleichend mit religiösen Symbolen und Praktiken auseinanderzusetzen.
Literatur
Deiab, Azyza (2022): Interreligiöses Lernen im französischen Religionsunterricht – eine kritische Betrachtung der Gesamtkonstellation mit dem Fokus auf schulische Unterrichtsmaterialien der Region Elsass-Lothringen. In: THEO WEB, Heft 1, S. 135–155.
Hatton, Edwin (2019): De la lutte contre les discriminations à la promotion de la laïcité. In: Hommes & migrations, Heft 1324,
S. 49–55.
Kahn, Pierre (2021): Les valeurs de l’éducation en France : laïcité et égalité en débat. In: Revue internationale d’éducation de Sèvres, Heft 87, S. 133–141.
Klein, Laurent (2021): La laïcité à l’école publique. In: Etudes,
Heft 9, S. 35–46.
Meyer, Jean-Marc/Matzko, Johannes (2018): Laizität in der Schule. Das französische Modell. In: Weilert, A. Katarina/Hildmann, Philipp W. (Hg.): Religion in der Schule. Zwischen individuellem Freiheitsrecht und staatlicher Neutralitätsverpflichtung. Tübingen, S. 79–95.
Pomian, Krzysztof (2013): Der Ursprung des Museums: Vom Sammeln (4. Aufl.). Berlin.
Szukala, Andrea (2022): Bürgerbildung und wehrhafter Republikanismus in Frankreich nach dem Attentat auf Samuel Paty. In:
GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Heft 1, S. 66–76.
Vézier, Anne (2018): Éducation à la laïcité et enseignement laïque du fait religieux : enjeux d’une pédagogie du discernement.
In: Éducation et socialisation, Heft 48, o. S.

Die Autorin
Christina Freund ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) an der Ruhr-Universität Bochum und forscht als Doktorandin des Forschungskollegs ‚Regionale Regulierung Religiöser Pluralität im Vergleich‘ (RePliV) seit 2021 zur Vermittlung religiöser Vielfalt in europäisch ausgerichteten Museen.