
Religiöse Pluralisierung und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Aktuelle Herausforderungen in einer säkularer werdenden Gesellschaft
Der Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts hat sich fest in der öffentlichen Diskussion etabliert. Man könnte sagen das Beschwören des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist zu einer Art Mode geworden. Politiker*innen verwenden den Begriff genauso wie Journalist*innen oder Wissenschaftler*innen. Für einige Deutsche scheint die religiöse Pluralisierung ein Grund für seine Gefährdung zu sein, für andere gefährden genau diese Debatten über eine „gefährliche Pluralisierung“ und eine damit verbundene Ausgrenzungen den Zusammenhalt.
Für die politische Bildung ist es wichtig die Komplexität dieser Debatte begrifflich sicher aufzuschnüren.
Das Reden über den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat sich im Zuge der verstärkten Fluchtbewegungen nach Deutschland 2015 fest im öffentlichen Sprachgebrauch etabliert. Er drückt den Wunsch nach einem gemeinsamen Wir aus, welches sich allen Problemen gemeinsam stellen kann. Seine Bedeutung erhielt und erhält der gesellschaftliche Zusammenhalt vor allem deswegen, weil man ihn gefährdet sieht.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt –
Was ist das?
Prozesse wie die einer zunehmend beobachtbaren gesellschaftlichen Polarisierung oder ein aufkommender und erfolgreich agierender Rechtspopulismus, wenn nicht Rechtsextremismus, markieren zentrale Problempunkte für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Zuletzt kamen Auseinandersetzungen über Israel und eine Sichtbarwerdung von israelbezogenem Antisemitismus hinzu, die das Gesamtproblem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft neu in die Diskussion brachten. Die (religiöse) Pluralisierung wird wiederum von anderen Personen als Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts betrachtet. In ihr sehen sie die „Leitkultur“ des Landes und die Substanz der Nation durch Zuwanderung und Vielfalt gefährdet. Entsprechend stehen sich in Deutschland zwei Verständnisse von gesellschaftlichem Zusammenhalt gegenüber. Einerseits das eines demokratischen Zusammenhalts, welcher sich durch Offenheit und die Orientierung an einer freien pluralen Gesellschaft auszeichnet (Pickel/Pickel 2021: 118; FGZ 2024). Andererseits ein andere Gruppen eher exkludierendes Denken, eines, so könnte man sagen, völkischen oder nativistischen Zusammenhalts. Beide Gruppen wollen einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, nur für unterschiedliche Gruppen und mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Gestaltung des Gemeinwesens.
Was beinhaltet nun gesellschaftlicher Zusammenhalt? Man kann ihn als Zusammenfassung verschiedenster Verhaltensweisen und Einstellungen betrachten, die auf die Zusammengehörigkeit einer Gemeinschaft zielen (Forst 2020: 43). Besonders wichtig sind hier die Existenz einer weitreichenden Solidarität, von Toleranz und sozialem Vertrauen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt bezieht sich immer auf eine spezifische Gemeinschaft, in den öffentlichen…
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Der Autor
Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig. Er ist Leiter des Standortes Leipzig des Forschungsinstitutes Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Co-Leiter des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politische Kulturforschung, Religionssoziologie, vergleichende Politikwissenschaft, Antisemitismusforschung.