
Qualitätsmerkmale antisemitismuskritischer Bildung
Mit der Formulierung antisemitismuskritischer Perspektive hat sich der Diskurs um Antisemitismus und Bildung weiterentwickelt. Zentral ist die Erkenntnis, dass Antisemitismus als Gewaltform und Ungleichheitsverhältnis die gesamte Gesellschaft durchdringt. Die Bezeichnung „antisemitismuskritische Bildung“ umfasst eine Vielzahl von Bildungsansätzen, die auf einer gemeinsamen Basis beruhen. Der Kritikbegriff problematisiert die Beständigkeit, aber auch die Abwehr des Antisemitismus, denkt jüdische Erfahrungen als selbstverständlich mit und richtet sich nicht nur an Jugendliche, sondern auch an Fachkräfte.
Erst in den letzten Jahren hat sich die empirische Forschung dem gegenwärtigen Antisemitismus an Schulen zugewandt (vgl. u. a. Bernstein 2020; Chernivsky/Lorenz 2020). Der Forschungsstand verweist auf Formen offener Gewalt, aber auch Fälle struktureller Diskriminierung.
Antisemitismus in Bildungseinrichtungen
Aus Schilderungen jüdischer Schüler*innen als Teilnehmende einer Bundesländerstudienreihe am Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung lässt sich eine Topografie antisemitischer Übergriffe rekonstruieren. Jugendliche berichten von verbalen Entgrenzungen, Beleidigungen, Diffamierungen, Sachbeschädigungen, physischen Übergriffen. Unterschwellige Mikroaggressionen zeigen sich nicht nur unter Schüler*innen, sondern auch von Lehrer*innen. Vielfach werden die Verunsicherung, Passivität und Nicht-Reaktion von Lehrkräften geschildert.
Sie berichten von Verwendung antisemitischer Wortkombinationen, Beschimpfungen ‚Du Jude‘, Re-Inszenierung antisemitischer Gewaltgeschichte in Bildsprache und in Spielen, physischen Angriffen, Morddrohungen, antisemitischen Zeichnungen auf schulischen Fassaden. Antisemitismus zeigt sich zudem nicht nur in offener Gewalt, sondern in den Routinen seiner Bearbeitung.
Das Übersehen von Bedarfen jüdischer Schüler*innen, Fehlen angemessener Beschwerdestrukturen, die Auslassung religiöser Praktiken, die systematische Nicht-Berücksichtigung familialer Shoah- und Antisemitismuserfahrungen (vgl. Wiegemann 2022) sind ein Hinweis auf strukturellen Antisemitismus, der nicht zwingend an Einstellungen Einzelner gebunden sein muss, sondern aus instutionellen Routinen hervorgehen kann (vgl. Chernivsky/Lorenz-Sinai 2024).
Jüdische Schüler*innen können an Schulen nicht selbstverständlich jüdisch sein, da mit dem offenen Ausleben jüdischer Identität Nachteile und Sicherheitsrisiken verbunden sind (vgl. ebd.). Sie schildern Erfahrungen der Besonderung, Exotisierung, Nicht-Beachtung. Außerdem verfügt die jüdische Community über mehrfache migrantische Identitäten und kumulierte Diskriminierungserfahrungen.
„[…] ich hab Drohanrufe von Schülerinnen und Schülern, die besoffen waren in der 12. Klasse bekommen mit „du scheiß Jude, wir stechen dich ab“(.) warum? weil sie gelernt haben, dass sie damit davonkommen […] ich bin nicht nur Jude, ich…
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Die Autorin
Marina Chernivsky ist Psychologin und -Verhaltenswissenschaftlerin. Sie arbeitet, forscht und publiziert im Themengebiet transgenerationales Trauma, Antisemitismus und Diskriminierung in Institutionen. Sie leitet das von ihr gegründete Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung und ist Gründungsdirektorin von OFEK e. V. Seit 2019 ist sie Mitglied im Beratungsgremium des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus.