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Profession in der politischen Bildung?

Ja und nein 


Es ist aufallend, dass immer wieder nach dem Professionsverständnis von politischer Bildung gefragt wird. Hängt das damit zusammen, dass politische Bildner*innen häufiger als andere die Legitimität ihres Tuns belegen müssen? 

In der Tat stellt sich die Frage, ob man angesichts des unübersichtlichen Feldes von einer Profession (ausführlich zur Definition und Klärung bspw. Wiltrud Gieseke 2018) der politischen Bildung sprechen kann. Denn schließlich gibt es nicht „die“ politische Bildung, sondern drei große Bildungsbereiche: die an allgemeinbildenden Schulen orientierte Politikdidaktik, die außerschulische politische Jugendbildung und die politische Erwachsenenbildung. Zwar geht es jeweils um „Politik“ und wie sie vermittelt werden soll, aber es gibt eminente Unterschiede: bildungspolitische, institutionelle, pädagogische. Im Folgenden beschränke ich mich auf die politische Bildung im außerschulischen Bereich und der Erwachsenenbildung. Eine Voraussetzung für die Professio­nalität ist Klarheit über die zentralen Ankerbegriffe Politik und Bildung. 


Worum geht es bei Politik, Bildung, politischer Bildung? 

Politikwissenschaftler*innen nannten folgende Schlüsselbegriffe von „Politik“: Konflikt(e), Interesse, Macht, Konsens, Herrschaft, Willensbildung (Alemann 1994: 144). Das sind Kategorien, mit denen in Bildungsveranstaltungen das „Politische“ benannt, aufgespürt, begriffen und nach Handlungsmöglichkeiten gesucht werden kann, und zwar sowohl im Staat, also der institutionalisierten Politik, als auch in nahezu allen Feldern der Gesellschaft. Eine enzyklopädische Bildung, so wie sie in der bürgerlichen Zeit des 19. Jahrhundert noch gesehen wurde, ist nicht mehr möglich. Jeder Versuch würde angesichts der Globalisierung, der weltweiten Massenkultur und der Dynamik durch immer neue Kommunikationstechnologien scheitern. Wie kann dieser Zentralbegriff der politischen Bildung so erfasst werden, dass er nicht willkürlich gesetzt, dennoch allgemein akzeptiert und an keinem der Überalterung anheim gegebenen Kanon gebunden ist? Eine Orientierung gibt Immanuel Kants Definition von Aufklärung: 

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant 2010: 9, Hervorh. i. Origi.) 

Aus Kants Postulat aus dem Jahr 1784 ergeben sich substantielle Folgerungen für politische Bildung:  

  1. Bildung ist Befreiung. 
  2. Diese Befreiung kommt nicht von außen, sondern von den Individuen selbst. 
  3. Prämisse und Ziel von Bildung ist Mündigkeit. 
  4. Der Verstand ist Mittel und Weg, um Unmündigkeit zu überwinden.  

Oskar Negt schlägt, den Gedanken Kants folgend, sechs „Kompetenzen“ vor, die ihm „als gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen dringend notwendig erscheinen; sie können sich eignen, Wesenszusammenhänge der heutigen Welt zu erkennen und die bestehende Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer notwendigen Umgestaltung der praktischen Kritik zu unterziehen“ (Negt 1994: 283, Hervorh. i. Origi.):  

  1. Identitätskompetenz: Kampfgelände um das Ich – als entscheidende realitätsprüfende Instanz des Subjekts.
  2. Technologische Kompetenz: Gesellschaftliche Wirkungen begreifen und Entscheidungs­vermögen entwickeln.
  3. Gerechtigkeitskompetenz: Sensibilität für Enteignungsverfahren, für Recht und Unrecht, für Gleichheit und Gerechtigkeit. 
  4. Ökologische Kompetenz: Der pflegliche Umgang mit Mensch, Natur und Umwelt 
  5. Ökonomische Kompetenz: Sorgfältiger Umgang mit materiellen und geistigen Ressourcen. 
  6. Historische Kompetenz: Erinnerungs- und Utopiefähigkeit (Negt 2010: 222–234).  
Sie sollen nicht isoliert nebeneinanderstehen. Denn es geht um die „Wiederherstellung der wirklichen Zusammenhänge der Welt. Der aufgeklärte Mensch ist der diese Zusammenhänge begreifende Mensch, und das ist die Grundlage seiner Mündigkeit“ (Negt 2010: 211, Hervorh. i. Origi.).  


Politische Bildung im Spannungsfeld

Durch die Vielfalt ihrer Organisationen, Träger, Institutionen, Einrichtungen, wissenschaftlichen und fachlichen Bezugssystemen, Erwartungen und Interessen der Beteiligten befindet sich politische Bildung in einem Spannungsfeld der Interessen und Intentionen. Die Idee zu diesem Spannungsfeld verdanke ich Norbert Reichling. Sein damaliges „Kräftefeld der politischen Erwachsenenbildung“ (Reichling 1999: 146) habe ich weiterentwickelt. Dabei „handelt es sich um ein dynamisches Feld wechselseitiger Beeinflussungen: alle angeführten Bedingungsebenen wirken auf die ‚wirkliche‘ politische Bildung ein, verändern sich aber auch gegenseitig im Laufe öffentlicher und fachlicher Diskurse und Stimmungen“ (Reichling 1999: 146).  


Das „Lernen“ und „Lehren“ in der politischen Bildung 

Über das „Lehren“ sollte in der politischen Bildung nicht gesprochen oder geschrieben werden. Denn das verbietet einmal die Anerkennung vor der Mündigkeit. Zum anderen gilt Horst Sieberts zum Bonmot gewordene lernpsychologische Erkenntnis: „Erwachsene sind lernfähig, aber meist unbelehrbar?“ (Siebert 2015: 91). Daher muss politische Bildung für eine demokratische Gesellschaft auch demokratische Lehr- und Lernformen praktizieren. Konsequenterweise sind die zentralen didaktischen Leitideen politischer Erwachsenenbildung und außerschulischer Jugendbildung

  • Teilnehmer*inorientierung 
  • Subjektorientierung 
  • Lebensweltorientierung/Alltagsorientierung und 
  • Handlungsorientierung.  

Das Teilwort „-orientierung“ macht deutlich, dass damit keine festen Gewissheiten gemeint sind, sondern dass es sich auch um Suchbewegungen handelt, auf die sich die planenden und durchführenden Pädagog*innen einlassen müssen. Allerdings darf nicht der Eindruck erweckt werden, als seien diese didaktischen Kategorien gleichbedeutend mit einer willfährigen Akzeptanz aller Meinungen, Erklärungen und Gruppen­prozesse der anwesenden Kurs- und Seminar­teilnehmer*innen. Mitunter muss die Seminar­leitung intervenieren, gegensteuern. „Danach ist es Aufgabe der Gesprächsführung […] Einseitigkeiten in der Diskussionsentwicklung zu verhindern. Die Korrektivfunktion bezieht sich nicht nur auf die Gewichtung der Inhalte und Meinungen. Gegensteuerung erscheint bei einer offenen Diskussion auch angebracht, um jeweils einen Ausgleich zu erreichen zwischen Eilfertigkeit und Beharrungstendenz, Vereinfachung und Komplizierung, Verallgemeinerung und Personalisierung. Es geht um […] das Auflösen gegenseitiger Blockierungen, um ein Heranführen an sachgerechten Problemlösungen, ein Verhelfen zur Einsicht in Mehrdeutigkeit anstelle von monokausalen Erklärungen“ (Tietgens 1999: 86).  

Mit der AfD hat sich eine Partei in fast allen Länderparlamenten und im Bundestag festgesetzt, die rechtspopulistisch ist bzw. fließende Übergänge zum Rechtsextremismus hat. Für diese Partei zählen Bildungseinrichtungen zum „Kartell der Eliten“, das den „wahren Volkswillen“ ignoriere. So heißt es in Proklamationen der AfD und Schriften der Neuen Rechten. Gerade politische Bildungsveranstaltungen sind in ihr Visier geraten, AfD-Mitglieder in den Aufsichtsgremien verlangen, Vorträge und Seminare zu streichen, besonders solche, die sich mit Rechtspopulismus und Rechtsextremismus beschäftigen. Hier heißt es für politische Bildner*innen nicht flüchten, sondern standhalten (Hufer 2018), also Mut und Haltung zeigen.  


Die Wirkung politischer Bildung  

Politische Bildner*innen stehen aktuell unter einem mehrfachen externen Druck. Erstens müssen sie die Wirkung ihrer Arbeit nachweisen, zweitens deren Qualität dokumentieren, drittens Kosten sparen bzw. Gewinn erzielen, viertens auf der Höhe des digitalen Fortschritts sein. Entsprechend ändern sich die Erwartungen und Ansprüche des Publikums, aus Teilnehmer* innen sind Kund*innen geworden. Wer bedenkenlos unter diesen Voraussetzungen und mit dieser Sprache arbeitet, der wird zum Erfüllungsgehilfen fremder, bildungsferner Vorgaben. Angeboten wird, was funktional brauchbar, effektiv nützlich, erfolgreich verwertbar und finanziell lukrativ ist. Ein betriebswirtschaftlich diktiertes Management steht dann im Vordergrund, nicht die klassische Idee der Aufklärung, nicht die Orientierung an Demokratie und Demokratisierung.  

Vor diesem Hintergrund wurde ein Gutachten zur Wirkungsforschung erstellt (Hufer/Trumann 2023). Dabei konnte u. a. festgestellt werden:  

  • Quantitative, output-orientierte Befragungen zur Beurteilung der Wirksamkeit erweisen sich angesichts der Komplexität von Bildung (Selbstbildung) als nicht aussagekräftig.  
  • Politische Bildung braucht Zeit und vollzieht sich lebensbegleitend. Einstellungsänderungen ad hoc sind nicht zu erwarten.  
  • Politische Bildung ist wirkungsvoll, wenn sie die Spezifika des Lernens in ihren Konzeptionen berücksichtigt: Freiwilligkeit, Anschlusslernen, Subjektorientierung etc.  
  • Politische Bildung braucht Kontinuität, institutionelle Sicherheit und das Vertrauen in ihre Einrichtungen. 

Dennoch bleiben berechtigte Zweifel an der Professionalität politischer Bildung: Theorie und Praxis sind getrennt. So die Einschätzungen von Interviewpartner*innen, mit denen die Positionierung der politischen Bildung eruiert wurde (Hufer/Oeftering/Oppermann 2021). Nach wie vor existieren in der politischen Erwachsenenbildung und der außerschulischen Jugendbildung „zwei verschiedene Welten“ (Bremer 2021: 259): eine von theoretischen Erkenntnissen geleitete und eine auf Realisierbarkeit bedachte Welt. Daher ist die Antwort auf die Frage, ob es eine Profession der politischen Bildung gibt, ja und nein! 


Literatur 

Alemann, Ulrich von (1994): Grundlagen der Politikwissenschaft. Opladen. 

Gieseke, Wiltrud (2018): Professionalität und Professionalisierung in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung. In: Rudolf Tippelt/Aiga von Hippel (Hg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Wiesbaden, S. 1051–1069. 

Hufer, Klaus-Peter (2018): Die AfD und die Volks­hochschulen: Nicht flüchten, sondern standhalten. In: dis.kurs, Heft 4, S. 56–57. 

Hufer, Klaus-Peter/Oeftering, Tonio/Oppermann, Julia (Hg./2011): Positionen und Perspektiven der politischen Bildung. Ein Interviewbuch zur außer­schulischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Frankfurt/M. 

Hufer, Klaus-Peter/Trumann, Jana (2023): Wirkung politischer Erwachsenenbildung – Präventionsmöglichkeiten am Beispiel der Bildungsarbeit gegen Rechtsextremismus, Kurzgutachten im Auftrag von Core NRW. Online abrufbar unter https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/CoRE_KurzGutachten6_Wirkung_Erwachsenenbildung_230515_www.pdf (Zugriff vom 19.11.2024). 

Kant, Immanuel (2010): Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung. In Stollberg-Rillinger, Barbara (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen, Definitionen, Dokumente. Stuttgart, S. 9–18. 

Negt, Oskar (1994): Wir brauchen eine zweite, eine gesamtdeutsche Bildungsreform. In: Oskar Negt (Hg.): Die zweite Gesellschaftsreform. 27 Plädoyers. Göttingen, S. 276–290. 

Negt, Oskar (2004): „Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen“. In: Hufer, Klaus-Peter/Pohl, Kerstin/Scheurich, Imke (Hg.): Positionen der Politischen Bildung. Ein Interviewbuch zur außer­schulischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Schwalbach/Ts., S. 194–213. 

Negt, Oskar (2010): Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen.

Negt, Oskar (2016): Versuch einer Ortsbestimmung der politischen Bildung. In: Hufer, Klaus-Peter/Lange, Dirk (Hg): Handbuch politische Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts., 2016, S. 10–20. 

Reichling, Norbert (1999): Ziele und Erwartungshorizonte politischer Erwachsenenbildung. In: Beer, Wolfgang von/ Cremer, Will/ Massing, Peter (Hg.): Handbuch politische Erwachsenenbildung. Schwalbach/Ts., S. 145–165. 

Siebert, Horst (2015): Erwachsene lernfähig, aber unbelehrbar? Was der Konstruktivismus für die politische Bildung leistet. Schwalbach/Ts. 

Tietgens, Hans (1999): Gegensteuerung. In: Hufer, Klaus-Peter (Hg.): Außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung, S. 86.

Der Autor

Dr. rer. pol. phil. habil. Klaus-Peter Hufer ist außerplanmäßiger Professor an der Fakultät Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Erwachsenenbildung, Bildungspolitik, Argumentationstrainings und Rechtspopulismus.

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