Politische Erwachsenenbildung für alle?
„Die deutsche Gesellschaft driftet auseinander“ – so oder so ähnlich klingen viele Zeitdiagnosen der vergangenen Jahre. Sind breit geführte Diskurse über gesamtgesellschaftlich relevante Fragen überhaupt noch möglich? Und welche Konsequenzen ergeben sich für eine politische Erwachsenenbildung, die Fragen des demokratischen Zusammenlebens mit möglichst allen gesellschaftlichen Gruppen diskutieren möchte? Eine Reflexion der Diskussionsprozesse im Modellprojekt „Zukunft inklusive?“ im Zusammenhang mit der spannungsreichen Fachdebatte um Zielgruppen und eine inklusive politische Bildung.
Fliehkräfte und Spaltungen prägen die deutsche Gesellschaft, und das nicht erst seit gestern. Falls es sie je gab, wurde die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ in den vergangenen 30 Jahren von neuen Klassenverhältnissen, Gruppenbildungen und Polarisierungen abgelöst (vgl. Reckwitz 2017). Nach der Wiedervereinigung sorgten soziale Verwerfungen in Ostdeutschland und rechtsextreme Gewalt im gesamten Bundesgebiet für neue Spaltungen, die sich bis heute fortsetzen. Auch wenn der deutsche Staat mit dem Bericht der „Süssmuth-Kommission“ 2001 endlich offiziell zur Kenntnis nahm, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist: Die mit „großer Gereiztheit“ (vgl. Foroutan 2019) geführten, teils rassistischen Debatten um das Thema Migration rissen trotzdem nicht ab. Zugleich fordern marginalisierte Gruppen mit vielfältigen Identitätspolitiken immer lautstärker ihre Rechte ein.
Das Bildungssystem trägt nur bedingt zu Zusammenhalt und gleicher Teilhabe bei. Es sei selektiv und diskriminierend, stellte UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz 2007 fest. Bei der Vermögensungleichheit belegt Deutschland einen der Spitzenplätze im EU-Vergleich (vgl. Fratzscher 2019). Und spätestens seit dem Aufstieg der AfD Mitte der 2010er Jahre sprechen wir von gesellschaftlicher Polarisierung. Was bedeutet das alles für die plurale Demokratie? Sind breit geführte Diskurse über gesamtgesellschaftlich relevante Fragen überhaupt noch möglich? Und wenn ja, kann die politische Bildung ein Ort dafür sein?
Politische Erwachsenbildung und ihr Zielgruppendenken: Teil des Problems?
Eine plurale Trägerlandschaft der politischen Erwachsenenbildung, zu der immer wieder neue Akteur*innen hinzustoßen, sorgt für eine vielfältige Angebotspalette. Dabei dominiert das Denken in Adressat*innen- und Zielgruppenkategorien die tägliche politische Bildungsarbeit. So muss jeder Förderantrag und Verwendungsnachweis Angaben zu den Zielgruppen der Bildungsveranstaltungen enthalten. Die Verlockung ist besonders im Rahmen von Projekten groß, spezialisierte Formate zu entwerfen, die jede Zielgruppe für sich „abholen“ − denn dieses Vorgehen wird mit Ressourcen belohnt. Die Zielgruppenfrage stellt sich dennoch für die einzelnen Träger ganz unterschiedlich. Einige freie Träger arbeiten bewusst milieu- oder communitybezogen und bieten spezielle,…
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Der Autor
Mark Medebach, Dipl. Sozial-
wissenschaftler, Fachbereichsleitung Politische Bildung und Öffentlichkeitsarbeit, Leitung des Projekts „Zukunft inklusive?“ bei den Evangelischen Akademien in Deutschland e. V.