
Politische Bildung von und mit jungen Roma
Amaro Drom: Brückenschlag zwischen basisorientierter Empowerment- und transnationaler Lobbyarbeit
Non-formale politische Bildung stärkt marginalisierte Gruppen, fördert ihre aktive gesellschaftliche Teilhabe und bekämpft strukturelle Ungleichheiten.
Die Roma-Jugendselbstorganisation Amaro Drom schafft Räume für junge Menschen, in denen sie sich selbstbestimmt gegen Antiziganismus, soziale Ausgrenzung und Diskriminierung engagieren können. Durch Mobilisierung der Basis, interkulturellen Dialog und von Jugendlichen geleitete Initiativen agiert Amaro Drom zwischen Bildung, Empowerment und politischer Interessenvertretung.
Amaro Drom (zu deutsch: Unser Weg) e. V. ist eine von Jugendlichen geleitete, interkulturelle Jugendselbstorganisation von Roma und Nicht-Roma mit Sitz in Berlin. Die Organisation wurde 2006 von einer Gruppe junger Roma-Migrant*innen aus dem ehemaligen Jugoslawien gegründet, von denen viele Ende der 90er Jahre im Anschluss an den Kosovokrieg nach Deutschland gekommen waren.
Die Anfänge von Amaro Drom
Sie entstand als Reaktion auf prekäre Aufenthaltsbedingungen sowie unzureichende Zugänge zu existentiellen Leistungen der Daseinsfürsorge, die zunächst mühsam erkämpft werden mussten. Während dieser Kämpfe wurde die Notwendigkeit einer ständigen politischen Interessenvertretung deutlich, die sich für die Anliegen und die Rechte der nach Deutschland eingewanderten Roma einsetzt.
Die damaligen Roma-Migrant*innen fanden seinerzeit in der nicht-formalen politischen Bildung die passenden Instrumente, um andere junge Roma dazu zu ermutigen, einerseits in freiwilligen Bildungsmaßnahmen jene Wissenslücken zu schließen, die die formalen Bildungssysteme sowohl in ihren Herkunftsländern als auch nach ihrer Ankunft in Deutschland hinterlassen hatten und andererseits sich selbstbestimmt gegen strukturelle Ungleichheiten und die Ausgrenzung von migrantischen Roma in ihrer neuen Heimat stark zu machen.
Internationales Engagement
Die auf Vorurteilen und Stereotypen beruhenden Diskriminierungen, mit denen sich Roma bis heute in Deutschland konfrontiert finden, spiegeln die Herausforderungen angesichts eines über Jahrhunderte hinweg tradierten, in ganz Europa weit verbreiteten Antiziganismus wider. Sie veranlassten Amaro Drom schnell dazu, auch auf internationaler Ebene aktiv zu werden. Bereits 2009 wurde Amaro Drom zu einer treibenden Kraft bei der Gründung des ternYpe – International Roma Youth Network, das aus einem Seminar in Berlin hervorging, in dem junge Roma-Aktivist*innen aus verschiedenen Ländern Europas den Grundstein für eine gemeinsame Bewegung für Empowerment, Bildung und Lobbyarbeit legten.
Die Verbindung zwischen seinem lokalen und seinem internationalen Engagement ist eines der Hauptmerkmale der Identität von Amaro Drom. Obwohl die Arbeit des Vereins tief im deutschen Kontext verwurzelt ist – aktuell vertritt Amaro Drom die Anliegen von zehn Roma-Selbstorganisationen bundesweit –, nahm die europäische Dimension antiziganistischer Ausgrenzung und Diskriminierung im Hinblick auf die Situation der Roma in ihren jeweiligen Herkunftsländern von Anfang eine entscheidende Rolle bei der politischen Ausrichtung der Organisation ein. Die Aktivitäten und Projekte des Vereins sollen daher nicht nur zu Mobilisierung und Selbstermächtigung der lokalen Basis führen, sondern – insbesondere auf den Gebieten der Migrations-, der Wirtschafts-, der Sozial- und der Bildungspolitik – auch Einfluss auf die Gestaltung europäischer Politik nehmen.
Vor diesem Hintergrund trat Amaro Drom dem Bündnis der European Roma Grassroots Organisations (ERGO) bei, dem heute 32 Roma- und Pro-Roma-Organisationen aus 26 Ländern Europas angehören und das sich in Brüssel dafür einsetzt, die politischen Entscheidungsträger der EU davon zu überzeugen, dass ein positiver Wandel für Roma nur möglich ist, wenn Antiziganismus als Ursache für Ungleichheit und Ausgrenzung erkannt und bekämpft wird und Minderheitsangehörige als gleichberechtigte Akteure am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
Aktuelle Herausforderungen
deutschlandweit und in Europa
Die Arbeit von Amaro Drom war sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene immer schon stark von ihrem jeweiligen aktuellen gesellschaftlichen und politischen Umfeld geprägt. In Deutschland bleibt Antiziganismus ein weit verbreitetes Phänomen, das verschiedene Bereiche des Lebens von Sinti und Roma, vor allem in Bezug auf einen gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung massiv negativ beeinträchtigt. Auch hat das Aufkommen rechtsextremen Gedankenguts und populistischer Bewegungen antiziganistische Diskriminierungen und Gewalttaten zuletzt deutlich verstärkt und an vielen Orten im Land ein zunehmend feindseliges Umfeld für die Minderheit geschaffen.
So wurden 2023 nach der Statistik des Bundeskriminalamts zur politisch motivierten Kriminalität 171 antiziganistische Straftaten begangen, während die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) für denselben Zeitraum sogar über 1.200 antiziganistische Vorfälle dokumentierte. Große Herausforderungen ergeben sich nicht zuletzt durch die sich nach wie vor antiziganistischer Stereotypen bedienenden medialen Berichterstattung über Roma sowie den in den sozialen Medien kursierenden Hassreden und Falschnachrichten.
Trotz der zunehmenden Anerkennung dieser Probleme im politischen Diskurs, zu der neben der 2022 erfolgten Ernennung des Bundesbeauftragten gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland auch die Arbeit des durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ geförderten Kompetenznetzwerks Antiziganismus, an dem Amaro Drom seit 2021 beteiligt ist, beigetragen hat, sind die Fortschritte nach wie vor begrenzt und erfordern eine kontinuierliche Lobbyarbeit. Amaro Drom arbeitet daher gemeinsam mit den im Verein aktiven Jugendlichen an proaktiven Antworten und baut durch die Förderung der Solidarität zwischen Roma-Gemeinschaften und anderen marginalisierten Gruppen kontinuierlich neue Koalitionen auf, um Alltagsrassismus und die strukturelle Ausgrenzung von Minderheiten gemeinsam sichtbar zu machen und zu bekämpfen.
Die Herausforderungen, mit denen die Roma in ganz Europa konfrontiert sind, machen deutlich, dass koordinierte EU-Maßnahmen erforderlich sind. Eine wichtige Grundlage für die europaweite Bekämpfung von Antiziganismus stellt der Strategische Rahmen zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma in den EU-Ländern bis 2030 dar, der unter anderem wichtige Zielmarken für die Inklusion von Roma in den Bildungssystemen und auf dem Arbeitsmarkt sowie im Hinblick auf die Armutsbekämpfung enthält. Ein unter der Mitarbeit von Amaro Drom entstandener Monitoringbericht zur Qualität der geplanten Umsetzung des Strategischen Rahmens in Deutschland zeigt aber auch, dass gerade bei der Bekämpfung des institutionellen Antiziganismus nachhaltige Erfolge nur zu erreichen sind, wenn Roma-Selbstorganisationen den Druck auf lokale und nationale politische Entscheidungsträger hoch halten und hierzu auch Bündnisse mit anderen Minderheiten- und Migrantenorganisationen suchen.
Fünf Grundziele der Arbeit von Amaro Drom
1. Empowerment der Jugend als Antwort
auf Marginalisierung
Die nicht-formale politische Bildung und die Selbstermächtigung der Jugend sind die Herzstücke der Arbeit von Amaro Drom. Das freiwillige gemeinsame Lernen über die – in der schulischen Bildung mit wenigen Ausnahmen extrem unterbelichtete – (Verfolgungs-)Geschichte und Gegenwart von Roma und Sinti in Europa bildet dabei die Grundlage, um sich historisch reflektiert für die heutigen Belange und Interessen der Minderheit stark zu machen. In Workshops, Seminaren und mehrteiligen Qualifizierungsmaßnahmen werden junge Roma zudem dazu befähigt, jene Mechanismen und Formen alltäglicher und struktureller antiziganistischer Diskriminierung und Ausgrenzung zu erkennen und selbstbewusst in Frage zu stellen, durch die ihre Marginalisierung bis heute fortgeschrieben wird. Unter Anwendung partizipatorischer Methoden und innovativer Ansätze der Empowerment- und Sensibilisierungsarbeit sowie des interkulturellen Dialogs bestreitet Amaro Drom gemeinsam mit den Roma-Jugendlichen Wege zu Anerkennung, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit.
2. Identitätsbesinnung
Amaro Drom ist es ein besonderes Anliegen, dass Roma-Jugendliche sich auf ihre Kultur besinnen und sich in ihrer Lebensumgebung selbstbewusst und angstfrei zu ihrer ethnischen Herkunft bekennen können.
Hierzu fördert Amaro Drom unter den Jugendlichen unter anderem das Bewusstsein für die eigene Sprache der Roma, dem aus dem indischen Sanskrit hervorgegangenen Romanes, das durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 als einzigartiger Bestandteil des kulturellen Erbes Europas anerkannt wurde. Bei der Stärkung der Identität geht es neben der Aneignung des eigenen kulturellen Erbes auch darum, aufzuzeigen, welche starke Widerstandsfähigkeit die größte Minderheit Europas seit ihrer Einwanderung im 14. Jahrhundert entwickelt hat. Amaro Drom ist es zudem wichtig, junge Minderheitsangehörige nicht auf ihre Identität als Roma einzuengen, sondern andere identitätsstiftende Merkmale, wie sie sich etwa aus der Generationszugehörigkeit, dem eigenen oder dem Herkunftsland der Eltern, der Religion, dem Geschlecht oder der sexuellen Orientierung ergeben, genauso zu würdigen.
3. Community-Building
Die Zusammenarbeit mit Roma-Jugendlichen und ihren Familien steht im Mittelpunkt des basisorientierten Ansatzes von Amaro Drom. Dabei kümmert sich Amaro Drom um die unmittelbaren Bedürfnisse der Gemeinschaft und vermittelt in Workshops und Seminaren notwendiges Wissen und Fähigkeiten, um sich im Umgang mit Angehörigen und Institutionen der Mehrheitsgesellschaft behaupten und durchsetzen zu können. Zugleich baut Amaro Drom Kapazitäten für langfristige Veränderungen auf und betreibt hierzu den Aufbau von sieben bundesweiten Jugendgruppen, die eigene Empowerment- und Sensibilisierungsmaßnahmen zum Thema Antiziganismus durchführen und ihre Aktivitäten zu wichtigen Feier- und Gedenktagen der europäischen Roma in der Öffentlichkeit präsentieren. Zudem unterstützt Amaro Drom die Vernetzung der Jugendgruppen mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen der Antidiskriminierungsarbeit und fördert gegebenenfalls die Gründung eines eigenen Vereins. Dabei setzen die Initiativen von Amaro Drom stets auf partizipative Methoden, die sicherstellen sollen, dass sich die Perspektiven junger Roma in der Gesellschaft Gehör verschaffen.
4. Interessenvertretung und Bekämpfung
von Antiziganismus
Amaro Drom setzt sich aktiv gegen Antiziganismus auf nationaler und europäischer Ebene ein. In Deutschland befasst sich der Verein etwa vor allem mit Fragen des institutionellen Rassismus und geht gegen die systematische Diskriminierung von Roma u. a. in der Schule, in Jugend- oder in Arbeitsämtern vor. Öffentliche Sensibilisierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, Schulworkshops und von der Gemeinschaft getragene Initiativen und Kampagnen spielen dabei eine entscheidende Rolle für den Abbau von Vorurteilen und für eine nachhaltig wirksame Prävention gegen antiziganistische Ausgrenzung.
Auf internationaler Ebene verschafft Amaro Drom den Stimmen der Roma durch transnationale Netzwerke wie ternYpe und ERGO Network Gehör und leistet einen Beitrag zu politischen Rahmenwerken wie dem oben erwähnten Strategischen EU-Rahmen zur Inklusion der Roma oder den Empfehlungen des Europarats zur Beteiligung der Roma-Jugend.
5. Erinnerungsarbeit und Widerstand
Maßnahmen der historischen Bildung, vor allem Initiativen wie die Fortbildungsreihen rund um den 16. Mai, dem Gedenktag an den Aufstand von Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1944, den im Rahmen des internationalen Projekts „Dikh He Na Bister – Look and don’t forget“ veranstalteten Besuchsprogrammen in Auschwitz anlässlich des 2. August, dem Europäischen Holocaust-Gedenktag, oder das jährlich im Dezember in Berlin stattfindende achttägige Seminar „Roma Remembrance and Solidarity“ sind zentrale Bestandteile der Jugendarbeit von Amaro Drom. Durch die Aufarbeitung und die Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus werden junge Roma dazu befähigt, historische Ungerechtigkeiten mit zeitgenössischem Engagement zu verbinden und sich historisch reflektiert gegen heutige Erscheinungsformen von Rassismus und Ausgrenzung zu wenden. Dieser Ansatz fördert nicht nur das Verantwortungsbewusstsein, sondern auch die Einsicht junger Menschen, dass der Kampf gegen Antiziganismus immer auch ein Kampf um die Werte der Demokratie, die Menschenrechte und die Menschenwürde ist.
Literatur
European Commission, Directorate-General for Justice and Consumers (2023): Civil society monitoring report on the quality of the national strategic framework for Roma equality, inclusion, and participation in Germany. Luxembourg. Online abrufbar unter: https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/a832b8d0-3b21-11ee-bd8d-01aa75ed71a1/language-en (Zugriff vom 19.11.2024).
MIA – Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (2024): Antiziganistische Vorfälle 2023 in Deutschland. Zweiter Jahresbericht der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA). Berlin. Online abrufbar unter: https://www.antiziganismus-melden.de/wp-content/uploads/2024/06/MIA-JB-2023-Internet.pdf (Zugriff vom 19.11.2024).
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hg./2021): Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus. Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation. Berlin. Online abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/heimat-integration/bericht-unabhaengige-kommission-Antiziganismus.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (Zugriff vom 19.11.2024).

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