Politische Bildung mit soziologischem Blick
Trotz öffentlicher Bekenntnisse zur umfassenden politischen Bildung lässt sich in den schulischen Curricula eine starke Vereinseitigung ihrer Kerninhalte auf ökonomisches Wissen beobachten. Soziologische Fachinhalte dagegen werden marginalisiert, was u. a. deutliche Auswirkungen auf die Vorbereitung junger Menschen auf außerschulische politische Bildungszusammenhänge hat. Kernaufgabe der politischen Bildung ist die Vermittlung reflexiver Kompetenzen, um gesellschaftliche Zusammenhänge in ihren Bedingungen, Gestaltungsmöglichkeiten und Relevanzen für das eigene Handeln zu verstehen. Dazu trägt eine soziologisch fundierte gesellschaftliche Bildung unverzichtbar bei.
Junge Menschen, die sich auf der Suche danach befinden, „was Gesellschaft eigentlich zu einem Gesellschaftlichen macht“ (Adorno 2003), finden darauf unterschiedliche Antworten – in der Familie, bei Peers, im Internet, aber kaum in der (außer-)schulischen und beruflichen politischen Bildung. Fachwissenschaftlich fundierte Zugänge zur Beobachtung, Beschreibung und Erklärung von „Gesellschaft“ werden Kindern und Jugendlichen weitestgehend vorenthalten.
Dabei haben aktuelle zukunftsweisende Fragen nach gesellschaftlichen Zusammenhängen für junge Menschen eine besondere Bedeutung. Schüler/-innen sind in ihren gesellschaftlichen Suchbewegungen sogar bereit, dem Schulunterricht fernzubleiben und ihre Rechte auf eine bessere Gestaltung der Gesellschaft vehement einzufordern. Doch nicht nur die Fridays for Future-Bewegung, sondern auch populistische Antworten bewegen Kinder und Jugendliche mehr und mehr. Es geht für sie um die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich (nicht) leben?
Soziologie – die vernachlässigte Bezugsdisziplin
Soziologische Perspektiven sind seit geraumer Zeit in der politischen Bildung marginalisiert (vgl. Meuser 1997). Diese Leerstelle wird angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen in der Fachdidaktik zunehmend problematisiert (vgl. Schmitt 2019). Der Ausschuss „Soziologie in Schule und Lehre“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) weist in seinem Göttinger Aufruf von 2018 nachdrücklich auf die Bedeutung einer soziologischen fundierten politischen Bildung in der Schule hin: „Schulen sind oft der einzige und prägende Ort, an dem Kinder und Jugendliche aus potenziell allen gesellschaftlichen Gruppen zusammenkommen und gemeinsam darüber nachdenken können, in welcher Gesellschaft sie leben, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der sie leben wollen, und was sie tun können, damit sich die Gesellschaft in ihrem Sinne ändert“ (Deutsche Gesellschaft für Soziologie 2018).
Soziologie – doppelt marginalisiert
Die Marginalisierung soziologischen Wissens hängt zum einen mit der Randstellung der politischen Bildung innerhalb des gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbunds zusammen – eine Randstellung, die besteht und verstärkt wird, obwohl die Bedeutung der politischen Bildung in der Schule für die Zukunftsfähigkeit von Demokratien immer mehr ins öffentliche Bewusstsein rückt.
Marginalisierung soziologischen Wissens
Zum anderen kann im Hinblick auf die drei Bezugsdisziplinen der politischen Bildung – Soziologie, Politik- und Wirtschaftswissenschaft – nicht von einem gleichberechtigten Miteinander ausgegangen werden. Vergleichende Studien zu soziologischen Anteilen in der politischen Bildung in den Bundesländern sind Mangelware und die vorliegenden Befunde ernüchternd (vgl. ebd.). Am Beispiel des Politikunterrichts in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen lautet das Fazit: „An keiner Schulform gibt es auch nur annähernd ein Gleichgewicht von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themenbereichen. Wirtschaft dominiert immer und sehr eindeutig“ (Gökbudak/Hedtke 2018: 13).
Das geht auf Kosten einer fundierten sozialwissenschaftlichen Bildung für Schüler/-innen. Fachwissenschaftlich fundierte soziologische Ansätze und Perspektiven sind in der schulischen und beruflichen politischen Bildung trotz mancher politischer Lippenbekenntnisse kaum mehr vorgesehen. Eine politische Bildung, die sich tatsächlich auf die Herausforderungen der Gegenwart einstellt, muss sich jedoch in wesentlichen Teilen auch auf das einlassen, was wir gesellschaftliche Bildung nennen wollen. Sie ist auf soziologisch informierte Analysen gesellschaftlicher Bedingungen und Zusammenhänge angewiesen. Soziologische Denkfiguren und Ansätze ermöglichen den Schüler/-innen reflexive Wissensformen, die aus der Gesellschaft ein Wissen über die Gesellschaft zur Verfügung stellen. Handlungen und Interaktionen, Individuum und Gesellschaft, Analysen der Gegenwartsgesellschaft und soziale Problematiken oder Werte und Normen im gesellschaftlichen Kontext denken, verstehen und gestalten zu können, wird unterhalb soziologischer Expertisen in der politischen Bildung kaum sichtbar werden.
Wie funktioniert und was ist „Gesellschaft“?
In der Soziologie gibt es eine lange Tradition, über solche und vergleichbare Fragen nachzudenken. Sie analysiert die gesellschaftlichen Strukturen, die Handlungen und Interaktionen sowie die damit verbundenen möglichen Effekte, zeigt Voraussetzungen und Folgen dieser Zusammenhänge auf. Ein besonderes Kennzeichen soziologischer Perspektiven besteht zudem darin, dass sie ganz unterschiedliche, auch divergierende Erklärungen und Beschreibungen anbieten – es gibt für sie nicht die eine, allein richtige Auffassung vom Gesellschaftlichen. Verschiedene soziologische Paradigmen bestehen neben- und miteinander und können auch gegeneinander diskutiert werden. Sie zeichnen sich jeweils dadurch aus, welche besonderen Beschreibungen und Erklärungen von Gesellschaft sie hervorheben und gegen andere absetzen.
Die Soziologie als Bezugsdisziplin der politischen Bildung bietet damit geradezu einen didaktischen Glücksfall. Multiperspektivität muss hier nicht erst mühsam hergestellt oder inszeniert werden. Im Gegenteil, ein „methodologischer Monismus“ (Engartner 2014: 42) lässt sich gerade hier in ausgezeichneter Weise vermeiden. „Gesellschaft“ ist mit Hilfe der verschiedenen, sich ergänzenden oder auch kritisierenden soziologischen Paradigmen multiperspektivisch analysierbar, interpretierbar, beobachtbar und diskutierbar. Das zeichnet soziologische Perspektiven aus.
Der Beitrag der Soziologie zur politischen Bildung
Soziologische Perspektiven tragen damit erheblich zu einem differenzierten Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenleben, Strukturen und Prozessen und vor allem Partizipationsmöglichkeiten bei. In den soziologischen Zugängen und Paradigmen wird der komplexe Zusammenhang von „Gesellschaft“ sichtbar und verstehbar – in seiner Bedeutung für alltägliches Handeln und Identitätsbildungen ebenso wie in seiner Konflikthaftigkeit und Gestaltbarkeit. Kursorisch soll das beispielhaft an drei zentralen Bezugnahmen politischer Bildung skizziert werden: Reflexivität, Mündigkeit und Multiperspektivität.
Reflexivität
Soziologische Ansätze und Erklärungen gehen oftmals mit einer Perspektive einher, in die Formen sozialwissenschaftlicher Reflexivität bereits eingebaut sind. Nahezu alle soziologischen Paradigmen gehen davon aus, dass soziologische Perspektiven aus der Gesellschaft auch ein Wissen über die Gesellschaft zur Verfügung stellen. Die fachwissenschaftlichen Zugänge der Soziologie ermöglichen Bildungserfahrungen in Distanznahmen zu gesellschaftlichen Normalitätsannahmen und Stereotypen. Es handelt sich dabei um Wissensformen, die weder blind auf Alltagsvorstellungen noch ausschließlich auf einen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft zurückgreifen. Soziologische Denkweisen und Paradigmen gehen mit reflexiven Bezugnahmen einher, die es erlauben, Gesellschaft und Gesellschaftlichkeit zugleich als gegeben und als veränderbar zu begreifen (vgl. Müller 2015).
Mündigkeit
Politische Bildung bezieht ihr Selbstverständnis zentral aus den Bezugnahmen auf Mündigkeit. Mündigkeit gilt als „die Leitidee des Unterrichts in den Fächern der politischen Bildung“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016: 21). In politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Bezügen wird der Anspruch auf Mündigkeit in der politischen Bildung ebenfalls formuliert. Soziologisch informierte Bezugnahmen auf Mündigkeit werden hier eine notwendige ergänzende Schwerpunktsetzung einbringen können, die für die politische Bildung unter institutionellen Bedingungen von Schulpflicht auch eine Antwort auf die von Immanuel Kant vorgelegte Frage beinhaltet: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ Die Einschränkungen und die Möglichkeiten von Freiheit in und durch Gesellschaft, in und durch Institutionen und Gruppen, Familie, Geschlechterverhältnisse, Macht- und Herrschaftsverhältnisse usw. bilden klassische soziologische Untersuchungsgegenstände, die im sozialwissenschaftlichen Unterricht eine hervorgehobene Bedeutung einnehmen (vgl. Zurstrassen 2012).
Multiperspektivität
Eine ausgewogen sozialwissenschaftlich fundierte politische Bildung besteht aus einem interdisziplinären Aushalten und Abwägen unterschiedlicher, auch divergierender fachwissenschaftlicher Bezüge. Erst das ermöglicht Schüler/-innen eigenständige Bildungserfahrungen, in denen unterschiedliche Perspektiven begründet, mit- und gegeneinander abgewogen und differenziert werden können. Voraussetzung für eine multiperspektivische sozialwissenschaftliche Bildung ist deswegen eine gleichberechtigte Einbindung der Soziologie als Bezugsdisziplin.
Komplexität und Gestaltbarkeit von Gesellschaft
Aktuell erleben allerdings auf der Ebene der fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen auch Bestrebungen nach separierten Schulfächern Aufschwung und sogar bildungspolitische Unterstützung. Für eine „sozialwissenschaftliche Alphabetisierung“ (Hedtke 2006) in der politischen Bildung, die die Komplexität und Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse als Bildungsauftrag ernst nimmt, können separierte Schulfächer, wie sie bspw. in Baden-Württemberg als Schulfach „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“ nun entstanden sind, nicht überzeugen. Aber auch unter dem Label einer „sozialwissenschaftlich integrierten politischen Bildung“ kann die weitere Aushöhlung der soziologischen (und mitunter auch politikwissenschaftlichen) Bezugsdisziplinen voranschreiten. Das belegen die jüngeren bildungspolitischen Schwerpunktsetzungen in Nordrhein-Westfalen ganz eindeutig. Zugunsten einer eng geführten ökonomischen Bildung wird eine politikwissenschaftlich und insbesondere auch soziologisch fundierte politische Bildung weiter ausgehöhlt.
Die Soziologie in der Lehramtsausbildung
Die soziologisch informierte politische Bildung benötigt soziologisch informierte Lehrkräfte. Dabei kann es nicht um einen lückenlosen Ein- und Überblick in „die Soziologie“ gehen, sondern um eine soziologische Grundbildung, die fachwissenschaftlich fundiert charakteristische Denkweisen und Paradigmen zeigt. „Wissen über Strukturmerkmale moderner Gesellschaften ist eine notwendige Voraussetzung für die Gestaltung von Unterricht“ (Deger 2018). Fachwissenschaftliche Bezüge nicht zu verkürzen, und dennoch angemessene Übersetzungen soziologischer Paradigmen und Wissensformen anzubieten – darin liegt sowohl auf der Ebene des schulischen Fachunterrichts als auch auf der Ebene der hochschulischen Lehramtsausbildung eine aktuelle Herausforderung für die Soziologie.
Soziologische Bildung vorenthalten oder curricular absichern?
Dass junge Menschen jemals damit aufhören, sich damit zu beschäftigen, in welcher Gesellschaft sie eigentlich wie und warum leben wollen, muss nicht befürchtet werden. Zu verzeichnen ist allerdings eine Tendenz zur soziologischen Analphabetisierung. So wird bildungspolitisch zwar der Stellenwert der politischen Bildung für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft gesehen und betont. Gleichzeitig nimmt die Marginalisierung der dafür unabdingbaren fachwissenschaftlichen, insbesondere auch soziologischen Bezüge stetig zu, also gerade derjenigen Fachinhalte, welche die Analysen gesellschaftlicher Mechanismen, Prozesse und Strukturen der Gegenwartsgesellschaft bereitstellen. Durch das Fehlen dieser fachwissenschaftlichen Bezüge ergibt sich nicht zuletzt auch eine deutlich gehemmte Anschlussfähigkeit außerschulischer politische Bildungsinhalte für junge Menschen. Der Preis dafür ist enorm: Kinder und Jugendliche, denen soziologische Aufklärung vorenthalten wird.
Literatur
Adorno, Theodor W. (2003): Einleitung in die Soziologie. Frankfurt/M.
Autorengruppe Fachdidaktik (Hg.) (2016): Was ist gute politische Bildung? Schwalbach/Ts.
Deger, Petra (2018): Zu den Erfordernissen gesellschaftlichen Wissens im Rahmen der Bildungswissenschaften. In: Soziologie, Heft 1, S. 46 – 50.
Deutsche Gesellschaft für Soziologie (2018): Soziologische Grundbildung für die Schule! Göttinger Aufruf der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), https://tinyurl.com/dgs-jpb1-20.
Engartner, Tim (2014): Pluralismus in der sozialwissenschaftlichen Bildung. Berlin.
Gökbudak, Mahir/Hedtke, Reinhold (2018): 17 Minuten Politik, 20 Sekunden Redezeit. Daten zum Politikunterricht in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen, https://tinyurl.com/bielefeld-jpb1-20.
Hedtke, Reinhold (2006): Integrative politische Bildung. Sozialwissenschaftliche Kompetenzen jenseits von Fächern und Disziplinen. In: Weißeno, Georg (Hg.): Politik und Wirtschaft unterrichten. Wiesbaden, S. 216 – 229.
Meuser, Michael (1997): Auf dem Weg zur marginalen Soziologie? Strategien gegen eine Verdrängung aus der politischen Bildung. In: Lamnek, Siegfried (Hg.): Soziologie und politische Bildung. Opladen, S. 241 – 260.
Müller, Stefan (2015): Soziologische Reflexivität: Negative Dialektik und die Beobachtung zweiter Ordnung. In: Scherr, Albert (Hg.): Systemtheorie und Differenzierungstheorie als Kritik. Perspektiven in Anschluss an Niklas Luhmann. Weinheim, S. 154 – 173.
Schmitt, Sophie (2019): Zur Reflexion des Selbstverständlichen anstiften – Potenzial soziologischer Perspektiven für die politische Bildung. In: Pohl, Kerstin/Lotz, Matthias (Hg.): Gesellschaft im Wandel – Neue Aufgaben für die politische Bildung und ihre Didaktik!? Frankfurt/M., S. 94 – 102.
Zurstrassen, Bettina (2012): Soziologische Theorie im Unterricht. Gesellschaft entdecken durch soziologische Theorieanalyse. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, Heft 3, S. 401 – 414.
Alle Internetquellen abgerufen am 15.12.2019.
Zitation:
Müller, Stefan & Keller, Rainer (2020). Politische Bildung mit soziologischem Blick. Gesellschaft verstehen und gestalten, in: Journal für politische Bildung 1/2020, 10-15.
Die Autoren
PD Dr. Stefan Müller ist Soziologe und Privatdozent für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Arbeitsgebiete sind sozialwissenschaftliche Grundlagen Politischer Bildung, reflexive Lehrer/-innenbildung und Antisemitismusprävention.
Prof. Dr. Reiner Keller ist Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Augsburg. Seine Arbeitsgebiete sind insbesondere Wissens- und Kultursoziologie und die Soziologie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. 2015 – 2019 war er Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS).