
Emotionen und politische Handlungsfähigkeit
Schlaglichter auf einen vernachlässigten Zusammenhang
Die meisten Menschen können über politische Themen nur aufgrund von Emotionen sprechen. Wären ein umfassendes Wissen oder gar ein ausgeprägter politischer Sachverstand die dafür nötigen Voraussetzungen, so wäre außer ein paar wenigen Expert*innen schließlich kaum jemand dazu in der Lage, sich an politischen Diskursen zu beteiligen. Man könnte sagen: Ohne Emotionen keine Demokratie!
Emotionen füllen die Lücke zwischen Glauben und Wissen und verhelfen zur Orientierung, indem sie subjektive Gewissheiten in wahre Empfindungen verwandeln. Damit ermöglichen sie die politische Meinungsbildung auch ohne politisches Wissen und entsprechenden Sachverstand. Dies erklärt u. a., warum gute Argumente allein inhaltlich andersdenkende Menschen nur schwer erreichen. So lassen sich zwar bei Maschinen Handlungsabläufe durch die Veränderung eines Informationsstandes automatisch bewirken, bei Menschen muss dieser Prozess aber zwingend auch mit einer emotionalen Transformation verbunden sein. Dabei integrieren wir Menschen auftretende Reize in unser bestehendes Gefühlssystem – oder wir ignorieren sie.
Zwischen Teilhabe und Verzerrung
Wenn uns etwas emotional berührt, dann prägt sich dieses Gefühl tief in unser Denken ein und beeinflusst, wie und welche Informationen wir aufnehmen und verarbeiten. D. h.: Ohne passende Emotion(en) bleibt jede rationale Bewertung letztlich unvollständig, denn ihr „fehlt (noch) die angemessene Sicht bzw. Vergegenwärtigung der Situation“ (Weber-Stein 2017: 69).
Was wir als richtig oder falsch empfinden, ist also maßgeblich eine emotionale Angelegenheit. Dies trifft v. a. dann zu, wenn die Phänomene, zu denen es sich in Beziehung zu setzen gilt, komplex, unübersichtlich und durch innere Widersprüche gekennzeichnet sind. Emotionen ermöglichen uns, in solchen Situationen innere Klarheit und Eindeutigkeit herzustellen, auch wenn diese objektiv gar nicht gegeben sind. Zum einen sind Emotionen damit unverzichtbar für die Teilhabe an demokratischen Diskursen, zum anderen können sie einen an Fakten und Sachlogiken orientierten Diskurs aufgrund ihrer enormen Widerständigkeit mindestens erschweren, ggf. sogar verhindern.
Politische Handlungsfähigkeit =
politische Kommunikationsfähigkeit
Politisch diskursfähig zu sein bedeutet, politisch handlungsfähig zu sein. Nach Massing (2020: 102) ist politisches Handeln „sowohl subjektiv politisch gemeint als auch objektiv politisch wirksam, d. h. den politischen Zustand beeinflussend, und sei es nur den politischen Informationsstand des Individuums“. Damit gelten bspw. das Engagement in politischen Parteien, die Teilnahme an öffentlichen Protesten, das Unterzeichnen von Petitionen, aber auch der Konsum von Medien mit dem Ziel, sich politisch zu informieren, als politisches Handeln. Entgegen der Definition von Massing dürfte es sich jedoch auch dann um politisches Handeln handeln, wenn eine Kommunikation unbeabsichtigt oder nur implizit politisch ist, von dem*der Sprecher*in also nicht politisch gemeint ist, denn auch in diesen Fällen kann sich der politische Informationsstand von Personen und/oder Gruppen verändern. Ganz besonders gilt dies für die politische Bildung selbst, die kommunikative Praxen als politische Sprechakte, mithin als politische Handlungen, versteht, und die damit stets selbst politisch ist. Da politische Bildung nicht nur auf die Vermittlung von Wissensbeständen abzielt, sondern u. a. auch auf die Anbahnung und Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit, sollte sie in diesem Rahmen dazu beitragen, politische Sprechakte zu analysieren, zu fördern und zu reflektieren. Zumal Politik in den meisten Lebenswelten primär als Literalitätsphänomen verankert sein dürfte.
Die Fähigkeiten, sowohl sich selbst in politischen Diskursen argumentativ-sachlich und emotional äußern als auch politische Sprechakte Dritter diesbezüglich analysieren und beurteilen zu können, stellen daher demokratisch-politische Kernkompetenzen dar. Analysiert man in der Politikdidaktik prominente Kompetenzmodelle, so stellt sich jedoch rasch der Eindruck ein, dass das Bildungspotenzial in Bezug auf die emotionalen Anteile politischer Diskurse bislang noch nicht ausgeschöpft, bisweilen noch nicht einmal erkannt worden ist. So tauchen Emotionen hier bestenfalls implizit in Form von Werten oder Motivatoren auf, gelten dem Grunde nach aber nach wie vor als bedauerliche Eintrübungen im ansonsten klaren Idealbild einer aufgeklärten, auf Vernunft und Rationalität beruhenden politischen Analyse-, Urteils- und Handlungsfähigkeit.
Politainment ≠ Diskursfähigkeit
Ende der 1980er Jahre, als die bis dahin weitgehend bipolar geordnete politische Welt zu kollabieren begann und der reale Staatskommunismus verschwand, schien auch die Zeit der Polit-Clowns abgelaufen. Die Legende vom Ende der Geschichte kam auf (Fukuyama 1992), das System der liberalen Demokratie, so dachte man, würde seinen Siegeszug antreten und den Erdball überziehen. „Überall auf der Welt […] machte man sich auf die Suche nach seriösen Politikern, die sich darauf verstanden, Demokratien zu führen. Sie durften ruhig ein bisschen langweilig sein, Technokraten eben, Hauptsache, sie waren seriös, sachlich und zeigten kein clowneskes Gebaren. Die Clowns, dachte man, hatten endgültig abgedankt. Schließlich hatten sich diese Wahnsinnigen im 20. Jahrhundert exzessiv ausgetobt“, bilanziert Torsten Körner (2019) in seinem Essay Das Zeitalter der Clowns. Doch weit gefehlt: Bereits Mitte der 1990er Jahre betrat mit dem Medienmogul Silvio Berlusconi einer die Manege, der mit dem Berlusconismus einen Politikstil prägte, der stilgebend für viele folgende Politiker*innen in westlichen Ländern sein sollte. Den Markenkern dieses Stils bildet eine Vermischung politischer, populistischer und unterhaltsamer Inhalte, die mitunter reichlich ideologiefrei und nahezu immer opportun vorgetragen werden.
Im Mittelpunkt entsprechender Inszenierungen stehen Emotionen, inhaltliche Positionen hingegen sind fluide, genauso wie die Maßstäbe, an die die Realisierungsmöglichkeiten herausposaunter Versprechen unter verantwortungsethischen Gesichtspunkten angelegt werden. In diese Entwicklungslinie passt ebenso, dass auch in Deutschland die mediale Inszenierung von Politik(er*innen) massiv an Bedeutung gewonnen hat. Dies betrifft explizit die gesamte Parteienlandschaft, insbesondere aber diejenigen politischen Parteien, die sich dem Rechtspopulismus zurechnen lassen. In ihren Narrativen werden politische Gegner*innen und alle, die nicht in das eigene Weltbild passen, zu Verräter*innen, (Volks-)Feind*innen oder ausländischen Agent*innen (v)erklärt.
Als typisches Muster präsentieren sie eine vermeintlich starke Führungsfigur à la Trump, die als Heilsbringer*in das schafft, was viele einer demokratischen Politik, die auf Ausgleich und Kompromiss setzt, nicht mehr zutrauen: die Lösung grundlegender Probleme. Die Folgen dieser Politik sind zunehmend polarisierte Gesellschaften, die inhaltlich zwar nicht immer weit auseinanderliegen müssen, die aber – zumal für demokratische Gemeinwesen – in erschreckender Art und Weise an Diskursfähigkeit verloren haben.
Sprechakttheorien in der politischen
Kommunikation: Emotionen als Schlüssel zur Überzeugung
Einen fruchtbaren wissenschaftlichen Bezugsrahmen für die Berücksichtigung von Emotionen im Rahmen politischer Sprechakte bietet die Politolinguistik. Sie untersucht die politische Kommunikation mithilfe verschiedener Sprechakttheorien wie etwa dem Agitations-, dem Persuasions- und dem Kommunikationsmaximenmodell oder dem topischen Argumentationshandeln. Allen Modellen ist die Auffassung gemein, dass es im Rahmen politischer Kommunikation um die Überzeugung des Gegenübers mithilfe sprachlicher Mittel geht, was Emotionen selbstverständlich einschließt – mal dialogisch auf Ausgleich und Konsens orientiert, mal monologisch auf Spaltung und Überwältigung hin ausgerichtet. Freilich kann kein Modell allein einen umfassenden Erklärungsansatz für die vielschichtigen Formen und Formate realer politischer Kommunikation bieten, weil die politische Praxis durch einen polyphonen Mix politischer Kommunikationsformen/-formate bestimmt wird. So folgt die Kommunikation am Kabinettstisch einer anderen Logik als die einer Debatte im Bundestag und der über soziale Medien organisierte politische Austausch folgt einer anderen kommunikativen Logik als der einer politischen Talkshow. Jede Form der Kommunikation hat ihre eigene Funktionslogik, abhängig von den Sprecher*innen, den Adressat*innen, den (Teil-)Zielen und den (damit verbundenen) historischen und kulturellen Umständen.
Gleichwohl: Nie werden allein inhaltliche (Sach-)Informationen angeboten, stets werden auch Emotionen evoziert.
Eine bekannte Systematisierung unterschiedlicher Kommunikationsformen greift auf die aus der Antike bekannten rhetorischen Überzeugungsmittel Logos, Ethos und Pathos zurück (Arist. Rhet. I 2, 1356a). Beim Logos geht es um die formale, logische Konsistenz und Evidenz von Argumentationen (Kolmer/Rob-Santer 2002: 154 ff.). Als (Analyse-)Verfahren wird zu diesem Zweck auf die formale Logik zurückgegriffen, mit deren Hilfe sich die Plausibilität von Argumenten, zumindest bis zu einem gewissen Grad, bestimmen lässt. Der Begriff Logos kann insofern als ein auf Vernunft beruhendes Argumentationsmuster verstanden werden, welches das Ziel verfolgt, einen (scheinbaren) Beweis für eine Konklusion beizubringen (Hoppmann 2008: 631). Demgegenüber kann Ethos als die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft einer Quelle verstanden werden, die sich neben rationalen Überlegungen besonders aus emotionalen Zuschreibungen speist. So führt nach Hanke (2016: 69) das Bild des Charakters einer Person auf Seiten der Rezipient*innen unweigerlich zu einer emotionalen Stellungnahme, die sich zwischen den Polen positiv und negativ bewegt. Maßgeblich für den jeweiligen Einschnitt auf diesem Kontinuum dürften der wahrgenommene optische, auditive und habituelle Ausdruck einer Quelle sein, die unweigerlich emotionale Reaktionen hervorrufen (Eggs 1984: 92). So können z. B. Politiker*innen mehr oder minder unabhängig von den durch sie vertretenen Inhalten als charismatisch wahrgenommen werden und hohe Zustimmungswerte erzielen und vice versa.
Während das Ethos sich also auf die charakterliche Beurteilung einer Quelle (Person) durch die Rezipient*innen bezieht, ist das Pathos, in Gestalt seiner emotionalisierenden Artikulation, direkt auf die Wirkung bei den Rezipient*innen bzw. der Öffentlichkeit ausgerichtet. Das Pathos ist eine Figur, die auf Grundlage der absichtsvollen Evokation von Emotionen „die Überzeugungskraft der vom Redner vertretenen Sache im Publikum stärken oder erst herstellen [möchte]“ (Till 2008: 647). Emotionen werden diesbezüglich mal als eine Rede lediglich schmückende Ornamente, mal als unverzichtbare persuasive Überzeugungsmittel konzeptualisiert.
Fazit
Gerade demokratische Politik ist häufig langsam und anstrengend, mitunter auch undurchsichtig. Zudem steckt im Zeitalter der Polykrisen die Demokratie selbst in einer Reihe handfester Krisen. Hinzu kommt, dass viele Menschen mit ihrer eigenen, alltäglichen Lebensführung ausgelastet, gelegentlich auch überfordert sind, sich also nicht auch noch mit (demokratischer) Politik in extenso befassen können und wollen. Dass sie deshalb auch und u. U. sogar eher emotional angesprochen werden (wollen), ist insofern wenig überraschend und sollte nicht nur zur Kenntnis, sondern auch ernst genommen werden. Damit die Menschen nicht zuletzt antidemokratischen Kräften nicht auf den Leim gehen, müssen sie dazu in der Lage sein, Strategien der Emotionalisierung zu erkennen und kritisch zu bewerten, wobei politische Bildung potenziell helfen kann. Dafür aber bedarf es u. E. nicht nur einer Professionalisierung politischer Bildner*innen, sondern auch einer der Profession selbst.
Literatur
Arist. Rhet. = Aristoteles (1980/ca. 4. Jahrhundert v. Chr.): Rhetorik. Übs. von Franz G. Sieveke. München.
Eggs, Ekkehard (1984): Die Rhetorik des Aristoteles. Frankfurt/M.
Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Übs. Von Helmut Dierlamm, Ute Mihr u. Karlheinz Dürr. München.
Hanke, Mirja (2016): Zur Relation zwischen Argumentation und Emotion. Eine Studie anhand journalistischer Blogs aus Deutschland und Spanien. Saarbrücken.
Hoppmann, Michael (2008): Rhetorik des Verstandes. In: Fix, Ulla u. a. (Hg.): Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/An International Handbook of Historical and Systematic Research. 1. Halbband/Vol. 1. Berlin/New York, S. 630–645.
Kolmer, Lothar/Rob-Santer, Carmen (2002): Studienbuch Rhetorik. Paderborn u. a.
Körner, Torsten (2021): Politik als Manege. Das Zeitalter der Clowns. Deutschlandfunk. Online abrufbar unter https://www.deutschlandfunk.de/politik-als-manege-das-zeitalter-der-clowns-100.html (Zugriff vom 19.11.2024).
Massing, Peter (2020): Handlungskompetenz. In: Achour, Sabine u. a. (Hg.): Wörterbuch Politikunterricht. Frankfurt/M., S. 102–105.
Till, Dietmar (2008): Rhetorik des Affekts (Pathos). In: Fix, Ulla u. a. (Hg.): Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/An International Handbook of Historical and Systematic Research.
1. Halbband/Vol. 1. Berlin/New York, S. 646-669.
Weber-Stein, Florian (2017): Die affektive Dimension des hermeneutischen Zirkels. Emotionale Bedingungsfaktoren der politischen Werturteilsbildung. In: zdg, 8 (1), S. 54–73.

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