Demokratiedefizit als Gegenstand politischer Bildung
Die Frage, warum politische Bildung wichtig ist, erübrigt sich in gewisser Weise, wenn wir von zweierlei ausgehen: erstens davon, dass „Demokratie die einzige Staatsform ist, die erlernt werden muss“ (Negt 2004: 197), und zweitens davon, dass Demokratie ein Ort ist, „wo jeder andere ganz anders ist“ (Derrida 2002: 47) und dies eine gute und deshalb wünschenswerte allgemeine Ordnung darstellt. Im Rahmen eines Verständnisses, dass Demokratie wertvoll und Zielsetzung sei, bedarf es also keines expliziten Arguments für die Notwendigkeit politischer Bildung. Eher ist es so, dass da, wo politische Bildung nicht vorgesehen, verwehrt oder abgebaut wird, wir es mit einer strukturellen Verhinderung, zumindest Erschwerung von Demokratie zu tun haben. Wenn diese Erosion und Verunmöglichung von Demokratie überdies von demokratisch gewählten politischen Akteuren betrieben wird, handelt es sich um eine willentliche oder leichtfertige Selbstabschaffung demokratischer Traditionen.
Das „Politische“ – im Gegensatz zur Politik als systemisch-funktionaler Zusammenhang des Staatsapparates und seiner Institutionen – kann als eine grundlegende Dimension des Sozialen verstanden werden, in der die Auseinandersetzungen um die Angemessenheit und Legitimität der sozialen Ordnung durch Be-Gründungen stattfinden. Das Politische verweist auf Auseinandersetzungen, Einsätze und Kämpfe um die Frage der „allgemeinen guten Ordnung“.
Politische Bildung kann damit als Offerte betrachtet werden, die eine Auseinandersetzung von Gruppen und Individuen mit der politischen Dimension des Sozialen ermöglicht, unterstützt und begleitet, welche das Wissen über politische Zusammenhänge, um Konzepte, Vorstellungen und Erfahrungen „guter sozialer Ordnungen“ vertieft und politische und gesellschaftliche Handlungsbereitschaft stärkt. Wenn wir hierbei politische Bildung nicht affirmativ mit Bezug auf den je gegebenen Staat verstehen, sondern als „Bestandteil gelingender, aufklärender und handlungsorientierter Lebensbewältigung in einer sich stark verändernden Welt“ (Hafeneger 2005: 698), dann gehört die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Formen transnationaler Migration und globalen Verhältnissen sozialer Ungleichheit zu den bedeutsamsten Themen politischer Bildung der Gegenwart.
Migrationsforschung als Integrationsforschung
Auch wenn Migration kein ausschließlich modernes Phänomen darstellt, gelten gleichwohl gegenwärtig spezifische Bedingungen: Noch nie waren weltweit so viele Menschen bereit, aufgrund von Umweltkatastrophen, (Bürger-)Kriegen und anderen Bedrohungen gezwungen und aufgrund der technologisch bedingten Veränderung von Raum und Zeit in der Lage, ihren Arbeits- oder Lebensmittelpunkt auch über große Distanzen hin zu verändern. Migration muss hierbei als Phänomen der Beunruhigung, als Gegenstand von Diskursen sowie auch als Gegenstand politischer, kultureller und alltagsweltlicher Auseinandersetzungen verstanden werden (vgl. Mecheril 2016).
Unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen treten Dynamiken des Wandels von Zugehörigkeitsordnungen, Gewalt, um natio-ethno-kulturell kodierte Ordnungen zu bewahren, die Entwicklung von post-nationalen Identitäten und Bürgerschaftsverhältnissen, Konstruktionen natio-ethno-kulturell kodierter Hierarchien, die Auseinandersetzungen um die Frage, wer ‚wir’ sind, oder die zuweilen an rassistische Konstruktionen des und der Anderen anschließende Form der Unterscheidung von Menschen besonders klar in den Blick.
Es gibt nicht die Migrationsforschung. Migrationsforschung als Integrationsforschung mit Fokus auf nationale Vergesellschaftungsprozesse unterscheidet sich auch in ihren expliziten wie impliziten Vorstellungen politischer Bildung (Migrant/-innen mit dem gegebenen politischen System vertraut machen; Demokratielernen bei Migrant/-innen ermöglichen) deutlich, vielleicht sogar paradigmatisch von dem, was kritische Migrationsforschung genannt werden könnte.
Staaten entscheiden weit über ihre Grenzen hinaus
Das erste Anliegen dieser Migrationsforschung richtet sich darauf, migrationsgesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und insbesondere die Folgen von vermeintlich legitim institutionalisierten und angeblich alternativlosen asymmetrischen Verhältnissen der natio-ethno-kulturell kodierten Unterscheidung („türkischstämmig“, „Menschen mit Migrationshintergrund“, „Kopftuchmädchen“) zu untersuchen. Dass diese Verhältnisse nicht einfach das Resultat von Unterdrückungsstrukturen sind, wird von einem Verständnis von Herrschaft erfasst, das sowohl das Moment des Zwangs und der Verhinderung als auch das des Zugeständnisses und der Ermöglichung aufnimmt. Als gelebte und auf eine verfestigte Geschichte zurückblickende Realität asymmetrischer Beziehungen erscheinen Herrschaftsverhältnisse selbstverständlich, unabänderlich oder natürlich.
Diese gilt es im Rahmen migrationswissenschaftlicher Kritik im Hinblick auf die Bedingungen ihres Wirksamwerdens, ihre analytischen Eigenschaften sowie die Konsequenzen, die mit ihnen verknüpft sind, zu untersuchen. Ansätze politischer Bildung in der Migrationsgesellschaft, die einer kritischen Tradition der Analyse von Migrationsgesellschaftlichkeit verbunden sind, zielen damit auch darauf, die Demokratiedefizite (Einschränkungen der Möglichkeit, in gleicher Weise anders zu sein) des gegebenen politischen Systems deutlich zu machen und Konzepte der menschenrechtlichen Entgrenzung der Demokratie (vgl. Menke 2017: 250) kollektiv zu entwickeln und zu erproben.
Krise der Nationalstaaten
Der Begriff der „Volkssouveränität“ ist durch demokratische Defizite gekennzeichnet (vgl. Demirović 2017: 7). „Er unterstellt [...], dass die Reichweite seiner Entscheidungen mit den territorialen Grenzen kongruent ist. Dies entspricht nicht der Tatsache – die meisten OECD-Staaten greifen mit ihren ‚demokratischen‘ Entscheidungen weit über ihre Grenzen hinaus. Mit ihren Verfassungen gewährleisten sie Eigentumsrechte und Lebensformen, die folgenreiche Eingriffe in das Leben von Menschen jenseits der Staatsgrenzen erlauben, ohne dass deswegen die Betroffenen demokratische Mitspracherechte hätten“ (ebd.).
Zentrale Demokratiedefizite der gegebenen Ordnung werden nicht ausschließlich, aber auch von der Selbstmythologisierung des Nationalstaates als notwendiger politischer Einheit hervorgebracht. Diese auf einem bestimmten Typ der Konstruktion von Raum als Territorium sowie von Menschen, die in einem Verweisungszusammenhang stehen, als natio-ethno-kulturell kodiertes Wir, beruhende Vorstellung und Praxis des Nationalstaates steht unter gegenwärtigen Bedingungen praktisch-funktional wie legitimatorisch in einer tiefen und grundlegenden Krise.
Anders als vorherrschende Krisensemantiken es nahelegen, haben wir es weniger mit einer Migrations- oder Flüchtlingskrise zu tun als mit der Krise der Legitimität und Funktionalität der nationalstaatlichen Ordnung – eine Krise, die auch durch transnationale Migrationen intensiviert wird. Der von Benhabib (2016: 198) als Paradox demokratischer Legitimität und Souveränität bezeichnete Umstand, dass in der Logik der demokratischen Revolutionen der Moderne Bürgerrechte auf Menschenrechten beruhen, aber erste nur einer exklusiven Wir-Gruppe zugesprochen werden, wird als Problematik unter gegenwärtigen Bedingungen augenfällig (vgl. Mecheril 2020).
Die Europäische Nationenpraxis konnte sich nur durch faktische und symbolische Instrumentalisierung und Vergegenständlichung der Anderen vollziehen. In besonders klarer Weise hat dies Theo Goldberg (2002) herausgearbeitet, der zeigt, wie die Herausbildung und Verfasstheit moderner Staatlichkeit von race-Konzepten vermittelt wird. Das Vorstellungsbild und die Praxisform „Rasse“ stellen nach Goldberg einen essentiellen Bestandteil der epistemischen, philosophischen und materiellen Entwicklung des modernen Nationalstaats und seiner laufenden Gouvernementalität dar.
Gibt es ein transnationales Selbstbestimmungsrecht?
Die Institution des Nationalstaates benötigt das Phantasma der territorialisierten Nation und produziert es damit. Renata Salecl folgend kann die Nation als etwas begriffen werden, „das uns definiert, aber zugleich undefinierbar bleibt“ (1994: 14). Wir haben es hier mit einer symbolischen Lücke zu tun, die unter bestimmten Bedingungen zum Problem werden kann. Spätestens dann stellen Rassekonstruktionen (mit „Rasse“-Äquivalenzen wie Kultur, Religion, Ethnizität) probate Mittel dar, die symbolische Lücke zu schließen. Je bedeutsamer die Schwierigkeit der Bestimmung der Grenze wird, desto attraktiver wird die phantasmatische Absicherung und Iteration des Wir.
Es sind Grenzpraktiken der ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts formell und programmatisch anti-rassistischen Nationalstaaten und natio-ethno-kulturell kodierten Suprakontexte wie Europa, die rassistische Praktiken zur Folge haben. In diesem Sinne ist zu verstehen, dass Diskurse und Praktiken westlicher Staaten gleichzeitig rassistisch und anti-rassistisch sind (vgl. Lentin/Lentin 2006: 7). Insofern herrschaftskritische Migrationsforschung auf die Persistenz von Rassekonstruktionen und von Rassekonstruktionen vermittelten Humanunterscheidungen im politischen Denken sowie deren zum Teil zerstörerische Gewalt aufmerksam macht, empfiehlt es sich für die politische Bildung der Gegenwart, Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe zu verankern.
Rassismuskritik und politische Bildung
Rassismuskritischem Handeln geht es weniger um die Angabe von Kriterien, die es ermöglichen, Rassismus und „den Rassisten“ empirisch exakt zu bestimmen. Vielmehr verbindet sich mit Rassismuskritik die Ambition zum Thema zu machen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse und Handlungsweisen von (rassistisch auf- oder abgewerteten) Individuen, Gruppen und Institutionen durch Rassismen vermittelt sind. Rassismuskritik als eine Haltung und als eine Praxis sucht nach Veränderungsperspektiven, nach Möglichkeiten, solchen Formen der Fremdbestimmung, der Kontrolle und des Gelenkt-Werdens Alternativen entgegenzustellen und beeinträchtigende, disziplinierende und zuweilen auch gewaltvolle Formen des rassifizierenden Einflusses durch konkrete und generelle Andere wie auch durch Wahrheit beanspruchendes Wissen abzuschwächen.
Da der Kern rassistischen Denkens aus (in der Regel verborgenen) auf Rassekonstruktionen basierenden, herabsetzenden und beeinträchtigenden Unterscheidungen zwischen einem Wir und einem Nicht-Wir besteht, die über Praktiken wie Gesetzgebungen, politische Diskurse zu Mediendarstellungen und individuellen Habitualisierungen reichen, ist es auch im Rahmen politischer Bildung bedeutsam, die Rassismen zugrundeliegende binäre Logik zu problematisieren. Zudem muss verdeutlicht werden, auf Grund welcher Bedingungen diese Logik empirisch etwa von Alltagssubjekten außer Kraft gesetzt ist und Alternativen erprobt wurden und sich bewährt haben.
Mit dem kritischen Bezug auf implizite und explizite race-Kategorien, in und mit denen die Ungleichheit des Menschen durchgesetzt und legitimiert wird, verbindet sich auch die Kritik an der Alltagskultur einer buchhalterisch-administrativen Gleichgültigkeit, die die Anteilnahme an dem Schicksal und Leid anderer verhindert, und damit auch jene politische Einbildungskraft, die erforderlich ist, um Menschheit politisch wie pädagogisch nicht partikular und bloß konkret, sondern konkret allgemein zu denken.
Literatur
Benhabib, Seyla (2016): Kosmopolitismus ohne Illusionen: Menschenrechte in unruhigen Zeiten. Berlin.
Demirović, Alex (2017) Radikale Demokratie und Sozialismus. Grenzen und Möglichkeiten einer politischen Form, https://tinyurl.com/Demirovic-jpb1-20 (abgerufen am 15.12.2019).
Derrida, Jacques (2002): Politik der Freundschaft. Frankfurt/M.
Goldberg, David T. (2002): The racial state. Malden.
Hafeneger, Benno (2005): Politische Bildung. In: Tippelt, Rudolf (Hg.): Handbuch Bildungsforschung. Wiesbaden.
Lentin, Alana/Lentin, Ronit (Hg.) (2006): Race and State. Newcastle.
Mecheril, Paul (2016): Migrationspädagogik: Ein Projekt. In: Ders. (Hg.): Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim u. a., S. 8 – 31.
Mecheril, Paul (2020): Gibt es ein transnationales Selbstbestimmungsrecht? Bewegungsethische Erkundungen. In: Zeitschrift Erziehungswissenschaft (im Druck).
Menke, Christoph (2017): Einleitung. In: Ders./Raimondi, Francesca (Hg.): Die Revolution der Menschenrechte. Berlin, S. 247 – 252.
Negt, Oskar (2004): Politische Bildung ist die Befreiung der Menschen. In: Hufer, Klaus-Peter/Pohl, Kerstin/Scheurich, Imke (Hg.): Positionen der politischen Bildung. Schwalbach/Ts., S.196 – 213.
Salecl, Renata (1994): Politik des Phantasmas. Nationalismus, Feminismus und Psychoanalyse. Wien.
Zitation:
Mecheril, Paul (2020). Demokratiedefizit als Gegenstand politischer Bildung. Beiträge rassismuskritischer Migrationsforschung, in: Journal für politische Bildung 1/2020, 22-27.
Der Autor
Prof. Dr. Paul Mecheril ist Hochschullehrer an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld.