Dear Circus

Über das Politische im Circus

Die Vergangenheit des Zirkus ist komplex: koloniales Erbe einerseits und Möglichkeit für Selbstbestimmung marginalisierter Gruppen anderseits. Um die Ressourcen des Zirkus im Sinne politischer Bildung zu nutzen, braucht es eine kritische, intersektionale Perspektive auf das eigene künstlerische Schaffen sowie patriarchale und kapitalistische Verwebungen. Nur durch die Überwindung dominanter Machtverhältnisse und die Reduzierung des Fokus auf Leistungsprinzipien kann Zirkus inklusives Potenzial entfalten. Es ist Aufgabe der jetzigen Generation, Verantwortung für die Vergangenheit und das koloniale Erbe zu übernehmen und die Kunstform neu zu definieren.

Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich einen Artikel über Politische Bildung und Zirkus schreiben soll. Ich hätte einen wissenschaftlichen Artikel mit Fakten und Beispielen schreiben können, um zu zeigen, warum Zirkus politisch ist. Aber das würde meiner Erfahrung nicht gerecht werden. Neben der Beziehung zu meinen Eltern ist der Zirkus die einzige Konstante in meinem Leben. Mit sechs Jahren stand ich das erste Mal auf der Bühne und seitdem beschäftige ich mich mit seiner Welt. Als Artistin, Dozentin und seit zwei Jahren auch als Aktivistin. Es ist schwierig, die Komplexität der Zusammenhänge zwischen politischer Bildung und Zirkus zu beschreiben, denn beide fungieren als Oberbegriffe. In diesem Artikel beleuchte ich meinen Blickwinkel auf die Relevanz von Wissen über politische Zusammenhänge und der Zirkuskunst. Um meiner Emotionalität dieser Beziehung gerecht zu werden, schreibe ich den Artikel in Briefform. An den Zirkus als Phänomen an sich, als System und an einen diffusen anderen, der mein Leben seit Kindertagen begleitet. 

Dear circus, … da fängt es schon an. Schreib ich dich mit „Z“ und „k“ oder mit „C“. Was ist dir lieber? Ich habe dich mit „Z“ und „k“ kennengelernt, aber es ist nicht ganz klar, wer für diese Schreibweise verantwortlich ist. „C“ mag ich lieber, aber mit „Z“ und „k“ habe ich mich in dich verliebt. Zu Beginn warst du vor allem Leichtigkeit und ein Zufluchtsort. Wie viele Menschen vor mir, die immer wieder das Gefühl haben, „nicht passend“ zu sein, habe ich in deiner Welt Freund*innen gefunden und einen sicheren Ort. Ich konnte immer wieder die Erfahrung machen, wie viel ich erreichen kann, wenn ich mit Neugierde und Freude etwas übte. Ich wurde älter und unsere Beziehung wurde komplizierter. Ich weiß, Pubertät ist für alle schwierig, aber ich hatte höhere Erwartungen an dich. Stattdessen zogen sich plötzlich die diffusen Gefühle, „nicht passend zu sein”, auch in unsere Beziehung. Mein Körper veränderte sich. Plötzlich sollte ich aufpassen, was von meinem Körper auf der Bühne sichtbar war und wie ich mich bewegte. Leistung wurde wichtiger als Spaß. Ich weiß, du kannst nur bedingt etwas dafür, was Menschen aus dir machen oder in deinem Namen sagen oder tun, aber in dieser Zeit habe ich in deiner Welt viel Verletzung erfahren. 

Du stellst dich gerne als Zuflucht vor.

Viele kennen dich als Ort der Unterhaltung. Sie verbinden mit dir Staunen und Faszination. Ich will dir das alles nicht nehmen. Du schenkst mir dies auch immer wieder und glaub mir, ich bin davon überzeugt, dass wir alle mehr Freude in unserem Leben gebrauchen können. Aber ich schreibe dir heute, um dich an deine Verantwortung zu erinnern. Du existierst nicht außerhalb unserer Gesellschaft. Das hast du noch nie. Du bist rassistisch. Du bist sexistisch. Du behandelst schöne, trainierte und wohlhabende Menschen besser. Wie ich, hast du deine politische Dimension lange Zeit eher verdrängt. Vielleicht aus Sorge, es würde dir deinen Zauber nehmen. Aber was zählt dein Zauber, wenn ihn nur ausgewählte Menschen erleben dürfen? Das wurde mir erst in den letzten Jahren klar. 2020 produzierten Freundinnen und ich unser erstes professionelles Bühnenstück. Wir setzen uns zu diesem Zeitpunkt alle mit Feminismus auseinander, lasen viel und wagten es, unseren Blick zu verändern, auch auf deine Welt. Wir übertrugen unsere Erkenntnisse auf unser Aufwachsen im Zirkus und untersuchten mit dem Stück „3xEva“, inwieweit unsere Sozialisation als Frau im Zirkus und durch den Zirkus auf unser Leben gewirkt hatte: In der Akrobatik wurden wir ohne zu Fragen seit Kindertagen einfach berührt. 

Hat dies zum Beispiel einen Einfluss darauf, dass wir später im sexuellen Kontext nicht bemerkten, dass etwas über unsere Grenzen ging? Wir begannen diese und ähnliche Zusammenhänge zu hinterfragen: Wie beeinflusst unsere Zirkuspraxis unser Leben und was reproduzieren wir (unbewusst) auf der Bühne und im Training? Du musst lernen, mit Gespenstern zu leben. Ante Ursic schreibt dies 2023 über dich im Magazin „Voices” und meint damit, dass du dir deiner zweischneidigen Vergangenheit bewusst werden musst. Es stimmt, dass deine Welt früher auch ein Zufluchtsort für Menschen war, allerdings warst du vor allem auch ein Ort, an dem Menschen misshandelt und ausgebeutet wurden: „Mit Gespenstern zu leben, bedeutet unter anderem, den historischen Kontext zu berücksichtigen“ (Ursic 2023: 12). Ich verstehe langsam, was er meint. Ich bin Luftartistin, das heißt ich vollführe Bewegungen über den Köpfen aller Zuschauer*innen. Mir war lange nicht bewusst, dass insbesondere die Luftartistik früher genutzt wurde, um die Herrschaft über andere Völker und Länder zu inszenieren. Laura Murphy erläutert in ihrer Doktorarbeit die Rolle der Luftakrobatik in der Historie und die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und ihrer Ausführung (vgl. Murphy 2018: 15ff.). Es ist erstmal nicht augenscheinlich, dass die Luftartitsik bestehende Herrschaftsverhältnisse stabilisiert, doch gibt es heutzutage weiterhin Shows, die unreflektiert koloniale Machtstrukturen reproduzieren. Seitdem ich dies weiß, schaue ich anders nach oben. Und nach unten, wenn ich am Vertikalseil trainiere. 

Welche Möglichkeiten habe ich mit diesem Wissen? Wäre es als Weiße Person richtig, aufzuhören? Würde ich damit etwas ändern oder nur meiner Weißen Scham aus dem Weg gehen? Ich glaube nicht ans Canceln. Weder bei den Menschen, die deine Welt zum Schauplatz von Machtmissbrauch, (sexueller) Übergriffigkeit und Ungerechtigkeiten machen, noch bei mir selbst. Aber wir müssen lernen, wie wir Verantwortung übernehmen können und uns unserer individuellen Macht bewusst werden. Dies bedeutet für mich in Bezug auf Luftakrobatik zum Beispiel, dass ich daran arbeiten möchte, wie ich aus den Narrativen der Vergangenheit ausbrechen kann. Ich schreib dir heute vor allem, um dich an dein Potential zu erinnern. Du kannst mehr sein als ein Ort für Spaß und körperliche Höchstleistungen. Deine pädagogischen Vertreter*innen schreien schon auf und rufen mir Worte wie Vertrauen und Kommunikation zu. Fair enough. Mir hast du all´ diese Dinge auch beigebracht. Du hast aber verschwiegen, wie ungerecht deine Welt ist und deswegen kann ich deine Freude momentan oft nicht teilen, wenn du so tust, als wärst du frei von patriarchalen und kapitalistischen Strukturen. Oder mir dann schnell von deinen Projekten in sozial benachteiligten Räumen erzählst. Auch das sehe ich, wenn ich mit Menschen in Haft arbeite und sie mir danach sagen, sie hätten für einen kurzen Moment vergessen, wo sie sind. Ich danke dir für deine Bemühungen, Menschen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Aber schau dir bitte auch mal selbst ins Gesicht und lass dich nicht einfach nur im System für den guten Zweck einsetzen. Du hast dein eigenes System, um das du dich kümmern musst. Mit deiner Vergangenheit reicht es nicht, unterdrückende Strukturen nicht zu reproduzieren. Es ist deine Verantwortung deine Geschichte aufzuarbeiten und dich gegen jegliche Art der Diskriminierung zu positionieren.

Wenn du die Perspektiven änderst, die von dir und für dich sprechen, werden sich auch die Geschichten und deine Zukunft ändern.

Roxana Küwen Arsalan erzählt zum Beispiel auf der Bühne in ihrem Stück „OMA“ mit ihrer Disziplin Jonglage von ihrer Lebens- und Arbeitsrealität als Enkeltochter einer iranischen und einer deutschen Großmutter. Jarmila Lee-Lou Kuznik verarbeitet in „Seide und Stahl“ die Suche nach einer Vereinbarkeit der unterschiedlichen Körperlichkeit, die sie durch Zirkus und Gewichtheben erlebt und wie dies mit den gesellschaftlichen Erwartungen an „Frauen“ kollidiert. Es gibt immer mehr Artist*innen, die sich mit ihren eigenen unterdrückenden Strukturen auseinandersetzen und sie auch szenisch darstellen. Sie nutzen die Bühne als Chance, eine klare politische Haltung zugänglich zu gestalten. Du kannst jedem Menschen eine Bühne geben, weil du frei in der Interpretation bist und wir dein Gesicht immer wieder verändern können. Bühne, Training, Freizeiten und Festivals. Du bist ein Lebens- und Arbeitsraum für viele Menschen und wo Menschen zusammenkommen, wirken politische Zusammenhänge. Du musst dich nicht stressen, du müsstest jetzt auch noch politische Bildung übernehmen, wo du doch schon körperliche und künstlerische übernimmst. Du musst nichts konstruieren. Du bist politisch. Warst du schon immer. Und wirst du immer sein. Du kannst es verdrängen oder dir deiner Möglichkeiten bewusst werden: Wie kannst du Menschen dazu befähigen, mündige Subjekte zu werden, die sich ihrer politischen Wirkmacht bewusst sind und sie nutzen?

Als ein selbstgewählter Ort, außerhalb von Schule und Familie haben Kinder- und Jugendzirkusse das Potential, ihren Teilnehmer*innen die Erfahrung von Mitgestaltung zu ermöglichen. Wir hatten damals zum Beispiel ein „Kindergericht“ im Kinder- und Jugendzirkus, den ich mitleitete. Kinder lernen ab der Kita, dass sie sich an Regeln halten müssen, die Erwachsene sich für sie ausgedacht haben. Wir haben versucht, eine andere Erfahrung zu ermöglichen. Immer wenn es ein Problem gab, haben wir uns mit allen zusammengesetzt und darüber gesprochen, wie wir miteinander leben wollen und angepasste Absprachen getroffen. Wir trauten den Kindern und Jugendlichen zu, für sich selbst sprechen und entscheiden zu können. Auch auf ästhetischer Ebene unterschätzt du dich selbst, wenn du uns immer wieder die gleichen Tricks und Ästhetiken beibringst und nach neuen Höchstleistungen strebst. Ich glaube, du brauchst das alles nicht. Du suchst nicht nach höher, schneller, weiter. Für mich suchst du nicht nach Perfektion. Für mich suchst du nach Freiheit. Während der letzten Jahre habe ich gelernt, dass ich mit dir sein kann, ohne gegen meinen Körper zu arbeiten. Mit dir zu sein, ohne von mir zu erwarten, jeden Tag deine und meine Grenzen zu erweitern. Ich weiß, du sorgst schon an vielen Orten für mehr Inklusion. 

Aber auf Bühnen und in Machtpositionen wünsche ich mir radikalere Entscheidungen. Dass dir Gleichberechtigung und diverse Sichtbarkeit wichtiger ist als deine geliebte Virtuosität und künstlerische Anerkennung. Wenn du auch deine sichtbaren Bilder ändern würdest, könntest du mehr Menschen die Erfahrung ihrer eigenen Selbstwirksamkeit schenken. Als Selbstzweck und als Teil einer politischen Bildung. Kinder müssten nicht mehr Nummern „abspielen“, die Erwachsene sich für sie ausgedacht haben oder alle dieselben Tricks lernen. Bewegungen könnten mit verschiedenen Körpern erforscht werden, um jedem Mensch seine Wirkmächtigkeit erleben zu lassen. Du könntest von Beginn an Kreativität und freie Bewegungsentwicklung ermöglichen – frei von Erwartungsdruck und inhärenten Eleganzvorstellungen. Jugendlichen und Erwachsenen könntest du den Raum geben, auf körperlicher und emotionaler Ebene, Erfahrungen zu reflektieren und sich selbst Ausdruck zu geben. Ich bin froh, dass wir uns dieses Jahr durch den Prozess für mein Bühnenstück „Lichtung” versöhnt haben. Ich weiß jetzt, wie ich mit und in deiner Welt sein kann. Mir hast du den Raum und den Grund gegeben, politisch zu werden. Ich dachte immer, ich sei es nicht, weil ich so wenig über das deutsche Parlament weiß. In deiner Welt habe ich gelernt, wie wichtig es ist, mich als Kraft zu begreifen, die unsere Gesellschaft mitgestaltet. Das beginnt in meinem Fall in Trainingssituationen, auf Festivals und während des Vermittelns. Und hört aber nicht am Zeltausgang auf.

Du kannst Teil davon sein, dass unsere Gesellschaft andere Geschichten sieht und hört und in Zukunft gleichberechtigter ist.

Du musst aber in deinen Räumen anfangen. Trau dich, über deine Vergangenheit zu sprechen, wie in deinem Namen Menschen ausgebeutet und zur Schau gestellt wurden. Trau dich, die Machtverhältnisse in der Szene zu benennen. Trau dich, deine inhärenten Leistungsprinzipien zu hinterfragen. Sei nicht der, der mit den Menschen wegläuft. Du wirst bestimmt noch einige Fehler machen. Machen wir alle. Wir sollten daher damit anfangen, über Fehler und Verletzungen zu sprechen, um durch mehr Fehlerfreundlichkeit, Hemmschwellen abzubauen. Wir müssen die Weiße westliche Prägung unseres Blicks verstehen, um deine Welt gerechter zu gestalten. Lass uns im Gespräch bleiben. Ich habe noch viel von dir zu lernen. Über meinen Körper. Über meine Gedanken. Über mich selbst. Und ich glaube, ich kann dir helfen, deine Welt zu verändern. Mit meinem Wissen, meinem Handeln und meinem Engagement. Auf die nächsten fünfundzwanzig Jahre.



Literatur

Murphy, Laura (2018): Deconstructing the Spectacle: Aerial Performance as Critical Practice. University of Sheffield Faculty of Arts and Humanities.

Ursic, Ante (2023): Eine Freak-Hantologie. Warum der Zirkus lernen muss, mit Gespenstern zu leben. in: Voices. Ein Magazin des CircusDanceFestivals. edition_2023, S. 9–17.

Die Autorin

Yolande Sommer ist Zirkusschaffende, Artistin und Dozentin für Bewegungskünste. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf einer feministischen Perspektive auf den Körper und die Strukturen, die die Szene und unsere Gesellschaft durchdringen. Für den Verein Exit Enter life e. V. arbeitet sie zirzensisch mit Menschen in Haft. Sie ist Gründungsmitglied der Initiative Feministischer Circus und produziert politische Stücke als Einzelkünstlerin und mit ihrer Kollegin Julia Berger als Kompanie Ponyclub

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